Wie die Landwirtschaft neue Geschäftsmodelle zur Nachhaltigkeit finden kann – auch im OM
Aus Pflanzen wird Bio-Kunststoff, KI sorgt für Tierwohl im Stall. Auf einer Tagung von Trafo-Agrar mit Sitz an der Uni Vechta standen innovative Systeme im Fokus. Macht der Markt mit?
Den Wandel hin zur Nachhaltigkeit im Blick: Teilnehmer der Tagung in Braunschweig, die von Trafo-Agrar mit Sitz an der Uni Vechta organisiert wurde. Foto: Tzimurtas
Die Landwirtschaft steht unter einem enormen Druck, sich zu wandeln. Neuerungen und Veränderungen bringt der Agrarsektor zwar immerzu hervor. Aber: Wohl nie zuvor gab es so viele und so unterschiedliche Herausforderungen auf einmal. Und: Die Zeit drängt, um Lösungen zu finden. Denn angesichts des Klimawandels geht es auch um den Erhalt der Grundlagen für die Produktion von Lebensmitteln. Um fruchtbare Böden und ausreichend Wasser. Anpassungen sind erforderlich – und die Absenkung des Ausstoßes von Treibhausgasen.
Hinzu kommt: Die deutschen Erzeuger sehen sich einer zunehmenden ausländischen Konkurrenz gegenüber, die günstigere Waren produziert. Was Verbraucher für Fleisch, Gemüse und Obst künftig zu zahlen bereit sind, bleibt angesichts der lahmenden Wirtschaft offen. Derweil ordnet sich die geopolitische Lage neu. Krieg in Europa – das ist seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine wieder Realität. Instabile Lieferketten waren eine der Folgen.
Zukunft der Landwirtschaft betrifft OM als Region ganz besonders
Der Wandel hin zur umfassenden Nachhaltigkeit – das ist auch eine Zukunftsfrage der Landwirtschaft und der Ernährungssicherung. Sie betrifft Regionen wie das Oldenburger Münsterland, in denen die Agrar- und Ernährungsbranche der stärkste Wirtschaftszweig ist, ganz besonders.
Wie also kann die Transformation gelingen? „Einzelmaßnahmen werden nicht ausreichen“, sagt Dr. Barbara Grabkowsky vor etwa 90 Vertretern des Agrar- und Ernährungssektors, der Wissenschaft und Politik. Es ist Mitte September, der Ort: das Forum des Johann Heinrich von Thünen-Instituts in Braunschweig. Grabkowskys Aussage gehört zu ihrer Begrüßungsrede auf der Tagung „Agrartransformation im System denken“.
Zentrale Bedeutung von Innovationen für den Wandel
Es geht um neue Wertschöpfung auf der Grundlage von zirkulären Systemen, von Stoffkreisläufen, die auch andere Wirtschafts- und Industriebereiche einbeziehen. Und es geht um die effizientere Nutzung von Ressourcen. Auch neue Geschäftsmodelle für Landwirte gehören dazu – all das vor allem aufgrund von Innovationen. Eingeladen hat der Verbund Transformationsforschung Agrar Niedersachsen (Trafo-Agrar) mit Sitz an der Universität Vechta, dessen Leiterin Grabkowsky ist. Mitveranstalter ist das „EIP Netzwerk Agrar & Innovation Niedersachsen“. Vorträge, Diskussionsrunden und die Vorstellung von Innovationen, die Start-ups entwickelt haben, bestimmen das Programm. Wichtige Fragen und Antworten:
Was ist mit dem „Denken im System“ gemeint? Es geht dabei insbesondere um neue geschlossene Kreisläufe. Das betrifft – ganz klassisch – die Nutzung von zentralen Ressourcen wie dem Wasser. Aber insbesondere auch innovative Wege in der Wiederverwertung von Abfallstoffen oder Nebenprodukten aus der Landwirtschaft sind damit gemeint. Kreislaufwirtschaft ist in anderer Weise in der Landwirtschaft ein bereits grundlegendes Prinzip. So kommen aus Ackerbaugebieten in Süd-Ost-Niedersachsen die Rohstoffe zur Futtermittelherstellung für die Tierhaltung im Nordwesten. Von hier aus wiederum wird überschüssiger Naturdünger – Gülle und Mist – in die Gebiete gebracht, in denen vor allem Ackerbau betrieben wird.
Der Präsident der Landwirtschaftskammer (LWK) Niedersachsen, Gerhard Schwetje, sagt in Braunschweig: „Die Landwirtschaftskammer begleitet Betriebe dabei, Kreisläufe zu schließen“. Er nennt auch das Nährstoffmanagement als Beispiel. Auf der Veranstaltung sind Reststoffe im Fokus.
Welche Beispiele gibt es für die Kreislaufwirtschaft mit Reststoffen? Beispiele zeigt die Tagung viele auf. So ist es möglich, aus Gärresten von Biogasanlagen Matten, Pflanzentöpfe oder Verpackungen herzustellen. Wie das gelingt, stellt Dr. Ute Baumeister vor. Sie ist geschäftsführende Gesellschafterin der „Gesellschaft für nachhaltige Stoffnutzung mbH“.
Vom Feld zum Granulat - Pflanzen für Bio-Kunststoffe
Das Prinzip: Pflanzenfasern ersetzen Kunststoffe – und Holz. Denn auch Papier, das zu 70 Prozent aus pflanzlichen Gärresten besteht, gehört zur Produktpalette. Und die Mulchmatten seien für den Einsatz im Obst- und Gemüsebau in Langförden getestet worden, berichtet sie.
Auch biobasierte Kunststoffe – sie werden aus nachwachsenden Rohstoffen wie Pflanzenresten produziert – sind ein Ansatz für das Zusammenwirken von Land- und erweiterter Kreislaufwirtschaft. Hierzu forscht Professorin Dr. Andrea Siebert-Raths von der Hochschule Hannover. Auf der Tagung erklärt sie, wie der Reststoff vom Feld zum Granulat wird – anhand des Anbaus von Erbsen und Binsen.
Wie aber sieht es mit den Marktchancen aus? Siebert-Raths sagt: Kunststoffe mit Binse können als Füllstoff in der Möbel- und Automobilindustrie angewandt werden, aber auch in der Luft- und Raumfahrt. Die Industrie stehe ebenfalls unter dem Druck, eine ordentliche Klimabilanzierung vorzuweisen. Die Kooperation mit der Industrie sei wichtig, um die Bedarfe an Werkstoffen zu kennen. Ein hoher Qualitätsstandard sei notwendig. „Es gibt viele Dinge, die schon im Markt sind“, sagt Siebert-Raths.
11 Millionen Tonnen an Lebensmittel landen im Müll – jedes Jahr
Der Agrarökonom Professor Dr. Achim Spiller von der Universität Göttingen verweist auf das jüngste Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung zur Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz, dem er vorsitzt. Er sagt: „Nachhaltige Alternativen – von pflanzenbasierten Produkten bis zur Kreislaufwirtschaft – sind keine Nischenfrage mehr.“ Es brauche aber klare Rahmenbedingungen, „damit Betriebe und Verbraucher diese Transformation mitgehen können“, hebt Spiller zudem hervor.
Wie viel Potenzial steckt für die Kreislaufwirtschaft in den weggeworfenen Lebensmitteln? „Unfassbar viele Rohstoffe“ könnten daraus hergestellt werden, betont Siebert-Raths. Denn: 25 Prozent der Lebensmittel würden weggeworfen – ungeöffnet. Auch diese Zahl ist aussagekräftig: Nach Angaben des Bundesagrarministeriums landen in Deutschland jedes Jahr fast 11 Millionen Tonnen an Lebensmitteln im Müll.
Welche Rolle spielen Daten und Künstliche Intelligenz (KI) bei der Nachhaltigkeit? Eine sehr wichtige, weil sie die Voraussetzung für eine Präzisionslandwirtschaft sind. Das heißt: Die Düngung oder der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln kann in exakt berechneten Dosierungen vorgenommen werden – zur Schonung von Umwelt und Klima. Auch mehr Wirtschaftlichkeit wird ermöglicht. Ebenso kann der bedarfsgerechte Einsatz von Wasser mithilfe von KI geregelt werden. Auf solche Anwendungen, die die Effizienz steigern und eine regionale Kreislaufwirtschaft optimieren können, hat sich das Unternehmen Agvolution mit Sitz in Göttingen spezialisiert.
KI im Stall fördert mehr Tierwohl
Geschäftsführer Andreas Heckmann sagt in Braunschweig: Die Bodenfeuchte sei der entscheidende Faktor für das Wachstum der Pflanzen. Mit KI könne sie besser bestimmt werden. Ein Sensor schließe die Datenlücke. Eine Berechnung für ganz Niedersachsen sei inzwischen in 475 Minuten möglich. In der Landwirtschaft sei alles vom Wetter abhängig – und vom Wasser, betont er.
Auch im Stall helfen Datenanalysen und KI, um für mehr Tierwohl zu sorgen – etwa durch eine „automatisierte Überwachung“, wie Professorin Dr. Nicole Kemper von der Tierärztlichen Hochschule Hannover (Tiho) berichtet. „DigiSchwein“ lautet der Name eines solchen Projekts. Bei einem anderen, das sie erwähnt, „TiPP“ genannt, geht es um größere Transparenz und Rückverfolgbarkeit im Sinne der Lebensmittelsicherheit entlang der regionalen Wertschöpfungskette für Schweinefleisch. Das Projekt wurde im Oldenburger Münsterland umgesetzt. Wie intelligente Systeme Tiergesundheit fördern und Ressourcen sparen können, das sei ein „echter Beitrag zur Kreislaufwirtschaft“, sagt Kemper.
Jan Müller, Präsident der Oldenburgischen Industrie- und Handelskammer (IHK), sagt grundsätzlich über den Einsatz von KI und Datenanalysen in der Wirtschaft: „Wir brauchen immer einen digitalen Zwilling.“ Heißt: Produkte und Herstellungsprozesse sollen durch Simulation optimiert werden.
Welche Bedeutung kann den Kreislaufsystemen für eine Region zukommen? Eine große. Das hebt Nikola Steinbock, Vorstandssprecherin der Landwirtschaftlichen Rentenbank, in ihrer Rede auf der Tagung hervor. Sie sagt: Zirkuläre Systeme sollen entlang von existierenden Wertschöpfungsketten gedacht werden.
Warum ist die Transformation des Agrar- und Ernährungssektors für den Nordwesten Niedersachsens besonders wichtig? Weil es hier der wichtigste Industriezweig ist – und am Anfang steht die landwirtschaftliche Urproduktion. IHK-Präsident Müller hat Zahlen parat: 47 Prozent der Industrieproduktion in seinem Kammerbezirk stehen „direkt im Zusammenhang mit der Agrar- und Ernährungswirtschaft“, sagt er. In Niedersachsen seien es 16, bundesweit 9 Prozent. „Das zeigt, welche überragende Bedeutung die Agrar- und Ernährungswirtschaft im Nordwesten hat“, betont Müller.
Start-ups mit Unternehmen zusammenbringen: Dafür tritt Sven Guericke, Vorsitzender des Agrar- und Ernährungsforums Nord-West mit Sitz in Vechta, im Gespräch mit Dr. Barbara Grabkowsky (Trafo-Agrar), ein. Foto: Tzimurtas
Wie müssen Wissenschaft, Praxis und Politik bei der Transformation zusammenwirken? Sehr eng. Frauke Patzke, Staatssekretärin im Agrarministerium in Hannover, sagt auf der Tagung: „Transformation gelingt nicht über Kulturkampfdebatten, sondern über Vertrauen, Zusammenarbeit und klare Rahmenbedingungen.“
LWK-Präsident Schwetje betont: „Entscheidend ist, dass Wissen aus Forschung und Beratung direkt auf den Höfen ankommt.“ Er ist aber offenbar mit der Rolle der Politik noch nicht zufrieden. „Die Politik soll nicht denken, dass sie die Lösung ist. Sie soll nur den Rahmen setzen“, sagt er. IHK-Präsident Müller fordert, es müsse „Innovationsstrukturen“ geben.
Zur Förderung von Start-ups, die an Neuerungen arbeiten, ist die Wirtschaft derweil auch selbst bereit. Sven Guericke, Vorsitzender des Agrar- und Ernährungsforums Nord-West (AEF) mit Sitz in Vechta, sagt auf der Tagung: Er habe die Idee, Unternehmen und Start-ups, die vor allem Geld bräuchten, zusammenzubringen. Es gebe da ein „riesiges Potenzial, das man heben kann. Da sind wir gerne dabei.“
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