In die Freude mischt sich ein bisschen Trauer
Meine Woche: 1989 habe ich den Mauerfall hautnah erlebt. Es darf nicht in Vergessenheit geraten, wie es in Ostdeutschland vorher war.
Heinrich Kaiser | 09.11.2024
Meine Woche: 1989 habe ich den Mauerfall hautnah erlebt. Es darf nicht in Vergessenheit geraten, wie es in Ostdeutschland vorher war.
Heinrich Kaiser | 09.11.2024

In dieser Woche habe ich oft an einen Donnerstagabend in einem nasskalten November gedacht. Ich war 25 Jahre alt und studierte in Berlin. An diesem Abend war ich ungewöhnlich früh zu Bett gegangen und schaltete noch den Fernseher an, um die Nachrichten zu sehen. Dann fielen vier Sätze, die mich hellwach werden ließen: „Im Umgang mit Superlativen ist Vorsicht geboten. Sie nutzen sich leicht ab. Aber heute Abend darf man einen riskieren: Dieser 9. November ist ein historischer Tag“, sagte „Mister Tagesthemen“, Hanns-Joachim Friedrichs. Es war der 9. November 1989, der Tag der Maueröffnung. Jeder Bürger durfte plötzlich ohne Formalitäten ausreisen. „Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich“, hatte DDR-Regierungssprecher Günter Schabowski während einer Pressekonferenz auf die Frage des Cloppenburger Journalisten Dr. Peter Brinkmann, ab wann die neuen Reiseregelungen in Kraft treten, gestammelt. Die Tagesthemen berichteten, dass bislang nur wenige DDR-Bürger von ihrer neuen Freiheit Gebrauch machten. Nur am Grenzübergang Bornholmer Straße hätten einzelne Männer und Frauen die Grenze passiert. Bornholmer Straße? Ich wohnte am U-Bahnhof Pankstraße im Wedding, nur wenige Kilometer von dem Grenzübergang entfernt. Aufgeregt rief ich meine Freundin (die inzwischen längst meine Frau ist) an. Sie saß in ihrer Wohnung in Moabit und paukte für eine Klausur. Zuerst glaubte sie mir nicht, dass die Mauer offen ist. „Ich wünschte, dass sich manche Wähler in den längst nicht mehr neuen Bundesländern erinnern würden, wie es dort vor dem 9. November 1989 war und welch’ große Freude über das Ende des menschenverachtenden Regimes herrschte.“ Nur schwer konnte ich sie motivieren, vom Schreibtisch aufzustehen und mit mir diese historische Nacht auf der Bösebrücke an der Bornholmer Straße zu erleben. Aber sie ließ sich mit meinem orangefarbenen Opel Ascona B abholen, und was wir dann erlebten, wird für immer eine gemeinsame Erinnerung bleiben, um die uns schon viele Freunde und Bekannte beneidet haben. Nicht viele Ostberliner kamen uns entgegen, als wir eine Stunde nach Friedrichs Sätzen die nun offene Grenze erreichten. Eine Frau, so Mitte 50, fiel mir unversehens um den Hals und erzählte mir eine schier unglaubliche Geschichte, während ihr Mann sich Tränen aus den Augen wischte: Am Morgen dieses 9. November hatte ihre Tochter versucht, ihre Eltern in Ostberlin zu besuchen. Einige Jahre zuvor war sie aus der DDR geflüchtet. Jetzt ließen sie die Grenzer nicht wieder herein. „Wenn sie nicht zu uns kommen darf, kommen wir eben zu ihr“, sagte die Frau, die ihr Glück kaum fassen konnte. Ich fragte sie, wo die Tochter wohne und wie sie dorthin kommen wolle. Im Märkischen Viertel, antwortete sie. Wir packten die beiden in meinen Ascona, und wir brachten sie in das Hochhausviertel im weit entfernten Bezirk Spandau. Dort angekommen, umarmten wir alle uns noch einmal. Das Ehepaar ging zu einem der Hochhäuser und drückte auf eine Klingel. Dann fuhren wir zurück zur Bornholmer Straße, wo sich inzwischen Tausende von freiheitsliebenden DDR-Bürgern im Freudentaumel eingefunden hatten. Die Öffnung der Grenze hatte sich mittlerweile herumgesprochen. Heute, 35 Jahre nach dem Mauerfall, mischt sich in meine Freude darüber, dass ich Weltgeschichte hautnah miterleben durfte, auch Trauer und Wut: Ich wünschte, dass sich manche Wähler in den längst nicht mehr neuen Bundesländern erinnern würden, wie es dort vor dem 9. November 1989 war und welch’ große Freude über das Ende des menschenverachtenden Regimes herrschte. Die Gefahr, dass sich Teile dieser dunklen Geschichte wiederholen könnten, wäre wohl weniger groß.Zur Person:
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