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Empörium Germanicum

Kolumne: Notizen aus dem wahren Leben – Hexen werden im 21. Jahrhundert natürlich nicht mehr verbrannt. Dafür gibt es stattdessen mediale Hetzjagden.

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Zum 45. Jahrestag seiner Veröffentlichung spielte der Deutschlandfunk am Mittwoch das „Hexeneinmaleins“ von Konstantin Wecker. Der im Strophenteil eher rätselhafte Song zitiert die schwer verständliche Hexenküchenszene aus Goethes „Faust“, doch der Weckersche Refrain geht jedem Musikanten über 50 noch heute von allein über die Lippen: „Immer noch werden Hexen verbrannt auf den Scheiten der Ideologien. Irgendwer ist immer der Böse im Land, und dann kann man als Guter und die Augen voll Sand in die heiligen Kriege ziehn“.

Wecker schrieb das Stück 1978 als wütende Liedermachereaktion auf die damals relevanten Themen Radikalenerlass, RAF-Terror und Rasterfahndung, indem er einen Bogen von der alten Hexenverfolgung zur neuen Medienhatz auf Popstars, Randgruppen und Andersdenkende spannte.

Damals wie heute empörte sich eine scheinbar aufgeklärte Generation über die wahnsinnigen Hexenprozesse der frühen Neuzeit, als in ganz Europa Tausende dem Feuertod auf dem Scheiterhaufen zum Opfer fielen – im Namen einer aus heutiger Sicht absurden Rechtsprechung und öffentlichen Meinung, die sich in ihrem moralinsauren und entsetzlich selbstgerechten Weltbild weitestgehend einig war. Damals wie heute aber agieren die Meinungsmacher in ähnlichen Mustern. Sie sollten schlauer sein als das 17. Jahrhundert. Sie sind es aber nicht.

"Empört aber ist man trotzdem. Und man brennt subtiler, schlachtet das Opfer nur medial und ist sich in seinem ebenso selbstgerechten Weltbild genauso einig, wie die religiös irregeleiteten Vorfahren vor 300 Jahren."

Heute wird natürlich niemand mehr verbrannt. Empört aber ist man trotzdem. Und man brennt subtiler, schlachtet das Opfer nur medial und ist sich in seinem ebenso selbstgerechten Weltbild genauso einig, wie die religiös irregeleiteten Vorfahren vor 300 Jahren. Spiegel, Bild und ZDF ergehen sich immer wieder gerne in hastiger Vorverurteilung, und ein wütender Mob rast in den sozialen Medien dazu, geifernd, Beifall klatschend und eigenartig schadenfroh.

Dass so etwas oft genug nach hinten losgeht, sehen wir an den Fällen Domingo, Lindemann, Mockridge oder Spacey. Alle Vier sind beileibe keine Helden, ich mag sie nicht besonders und kann mit ihrer Kunst wenig anfangen. Aber das tut nichts zur Sache: Gegen alle wurden inzwischen die Ermittlungen eingestellt, was im täglichen Medien- und Facebook-Zirkus keine Sau mehr interessiert. Hauptsache, man hat sie zu Beginn der Verdachte vor Jahren schon vorverurteilt und für schuldig befunden. Man war empört. Und man war sich einig, vollkommen richtig gelegen zu haben. Selbst offizielle Freisprüche ändern daran wenig und taugen bestenfalls als Anlass, im Nachschlag und in langen Kommentaren eine vermeintlich blinde Justiz zu beklagen. So wird der Vorwurf an den Verdächtigen ewig kleben.

Was bleibt, ist am Ende ein Appell an den Anstand: Seid gnädiger, seid von mir aus christlicher, auch wenn ihr der Kirche längst den Rücken gekehrt habt. Seid freundlicher und übt euch in Empathie statt in Empörung. Das wird sonst alles zu spießig hier.


Zur Person:

  • Christian Bitter ist Chef der Werbeagentur Bitter & Co. in Calveslage.
  • Er studierte Germanistik und war Leiter der Werbe-Redaktion der OV.
  • Den Autor erreichen Sie per E-Mail an: redaktion@om-medien.de.

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