Wahlkrampf, Fischmäc, Bösendorfer
Kolumne: Notizen aus dem wahren Leben – Über zwei ungeahnte Attraktionen in Köln und Musikgeschichte im Jahr 1975 .
Christian Bitter | 06.02.2025
Kolumne: Notizen aus dem wahren Leben – Über zwei ungeahnte Attraktionen in Köln und Musikgeschichte im Jahr 1975 .
Christian Bitter | 06.02.2025

In diesen wirren Zeiten des Wahlkrampfes riet vorgestern der Deutschlandfunk zur bildungsbürgerlichen Kontemplation: Die Moderatorin feierte den 50. Geburtstag des „Köln Konzerts“ von Keith Jarrett und spielte sodann den immerhin 26 Minuten langen „Part eins“ der Live-Aufnahme des meistverkauften Solo-Jazz-Albums aller Zeiten. Ich erinnerte mich mit. Ende Januar 1975 besuchte ich die Verwandten im Rheinland. Köln bot zwei ungeahnte Attraktionen: den frisch eröffneten McDonald’s, den ersten, den ich je sah, und eben dieses Pianistenkonzert in der Oper, das ich nur am Rande zur Kenntnis genommen hatte. Keith Jarrett, der Name sagte mir nichts. Ich war 13, hörte Status Quo und bestaunte die Fast-Food-Auswahl im für mich völlig ungewohnten Schnellrestaurant. Biefstück mit Brötchen, das kannte ich so nicht. Die Cousine riet dringlich zum „Schießburger“, ich nahm Fanta und Fischmäc und dachte: So geht Zukunft. Dass damals nur 200 Meter weiter Musikgeschichte geschrieben wurde, konnte ein Lümmel vom Lande kaum ahnen: An den Bauwänden rund um den Dom hingen zwar reichlich schwarzweiße Plakate in Matheheftgröße, darauf ein Kerl wie Stevie Wonder, dazu ein Slogan „New Jazz in Köln“ – doch was sollte man damit? Die Poster sahen aus wie die geprickelten Asta-Handzettel in der Vechtaer PH. Da war vor 50 Jahren Dieter Hallervorden zu Gast. Auch schön. „Dass damals nur 200 Meter weiter Musikgeschichte geschrieben wurde, konnte ein Lümmel vom Lande kaum ahnen.“ Nebenan soll der damals 29-jährige Keith zunächst gezögert haben, das Konzert überhaupt zu spielen, weil der eilig herbeigeschaffte und leicht lädierte Bösendorfer-Halbkonzertflügel seinen Ansprüchen kaum genügte. Doch was er in dieser Nacht schuf, war ein Monument der Improvisation, „ein Klangstrom, der wie ein Lebensfluss plätschert, brandet, ruht und schließlich triumphiert“, wie das Fachblatt Stereo damals schrieb. Er spielte vor ausverkauftem Haus, während ich einen Steinwurf entfernt durch die große Stadt tappte und rätselhafte Leuchtreklame zu übersetzen suchte: „Et fussig Julche“ hieß da ein offenbar sehr erfolgreiches Volkstheaterstück. Die kölsche Cousine übersetzte entnervt: „Die rothaarige Jule“. Hätte man drauf kommen können. Keith Jarretts „Köln Concert“ ist heute nicht nur ein Album, sondern ein Mythos. Die 66 Minuten Musik sind eine Meditation über die Schönheit des Augenblicks, der Vergänglichkeit und der Kunst, sich dem Moment hinzugeben. Der Pianist aus Pennsylvania sprach durch die Tasten, was Worte niemals ausdrücken könnten. Dass er bei der Aufnahme hin und wieder stöhnt und seufzt und ächzt, macht die Sache noch lebendiger. Die Doppel-LP ist bis heute ein Klassiker für alle Lebenslagen. Sie passt zu Omas 80. genauso wie zu Weihnachten, zum Nudelessen mit den Nachbarn oder zum Schäferstündchen mit Schatzi. Hören Sie mal rein. Es beruhigt ungemein.Zur Person:
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