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Geschwätz von vorgestern

Kolumne: Auf ein Wort – Alle, die sich um ein politisches Mandat bewerben, sollten beim Wort genommen werden. Auch oder gerade dann, wenn sie zuvor gemachten Aussagen später selbst widersprechen.

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Konrad Adenauer wird der Satz zugeschrieben: "Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?" Das Gegenteil ist richtig. Wir sollten alle, die sich um ein politisches Mandat bewerben, unbedingt beim Wort nehmen. Denn in manchen Fällen kann die Sprache geradezu verräterisch sein. Ein besonders trauriges Beispiel ist das kürzlich vom MDR ausgestrahlte Sommerinterview mit Björn Höcke, dem Thüringer AfD-Chef.

Im Zentrum des Interviews stand die Bildungspolitik. Gefragt nach konkreten Vorschlägen forderte er: "Unter anderem müssen wir das Bildungssystem auch befreien von Ideologieprojekten, beispielsweise der Inklusion, beispielsweise auch dem Gender-Mainstream-Ansatz." An anderer Stelle hatte er schon geäußert, die Regelbeschulung von Kindern mit Beeinträchtigung sei ein "Belastungsfaktor".

Nun könnte man der Meinung sein, der Politiker habe hier lediglich offensichtliche Probleme ansprechen wollen: dass die schulische Inklusion Lehrkräfte und Schulklassen mitunter an ihre Grenzen führt; dass es nicht wenige Förderschulen gibt, die eine ausgezeichnete Arbeit leisten und dennoch zu wenig Anerkennung erfahren; oder dass es Kinder mit einem so enormen Förderbedarf gibt, dass sie womöglich in einem speziellen Rahmen eine bessere Unterstützung erhalten können. Das alles hat er aber nicht gesagt.

"Höckes Ausführungen erwecken den Eindruck, als sollten Menschen mit ihren körperlichen oder geistigen Begrenzungen aussortiert werden, um die 'normale' deutsche Jugend für das Leben starkzumachen."

Was Höcke von sich gab, war Geschwätz von vorgestern. Denn die Aussage, dass man die deutschen Schulen von der Inklusion "befreien" müsse, weckt ungute Assoziationen. Höckes Ausführungen erwecken den Eindruck, als sollten Menschen mit ihren körperlichen oder geistigen Begrenzungen aussortiert werden, um die "normale" deutsche Jugend für das Leben starkzumachen. Wohlgemerkt: Er hat sich dabei mit keiner Silbe auf die NS-Ideologie berufen. Aber bewegt sich – nicht zum ersten Mal – mit seiner Wortwahl in einer bedenklichen Nähe dieses bisher gefährlichsten "Ideologieprojektes" unserer deutschen Geschichte.

Inklusion ist keine Ideologie. Ein Tanzensemble aus Trier, das in unserer Katholischen Akademie in Stapelfeld vor Jahren zu Gast war, hat mir das vor Augen geführt. In diesem Ensemble tanzen junge Menschen mit und ohne Behinderung miteinander. Die Aufführung hieß "Divinus" (göttlich) und machte deutlich: Jeder Mensch mit seinen Handicaps kann ein Künstler, jeder Leib kann eine Verkörperung, Verleiblichung des Göttlichen werden. Solche Begegnungen können auch für die Schulkinder ohne Beeinträchtigung eine wichtige Lernerfahrung sein.

Daher sollten wir das Geschwätz von vorgestern nicht wiederholen, sondern den ganzen Adenauer hören. Denn das berühmte Zitat lautet vollständig: "Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern, nichts hindert mich, weiser zu werden." Da lobe ich mir die Weisheit des "Alten" …


Zur Person:

  • Pfarrer Dr. Marc Röbel ist Akademiedirektor der Katholischen Akademie in Stapelfeld.
  • Den Autor erreichen Sie per E-Mail an redaktion@om-medien.de.

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