Pilar, Miguel und die Rolltreppe
Gästebuch: Anfang der 1970er Jahre war Vechta kurz davor, zu einer Großstadt heranzureifen. Schließlich gab es im neu eröffneten Kaufhaus Pilar sogar eine Rolltreppe. Lang ist's her.
Christian Bitter | 04.12.2025
Gästebuch: Anfang der 1970er Jahre war Vechta kurz davor, zu einer Großstadt heranzureifen. Schließlich gab es im neu eröffneten Kaufhaus Pilar sogar eine Rolltreppe. Lang ist's her.
Christian Bitter | 04.12.2025

Vor 55 Jahren stand Vechta kurz davor, die Welt zu umarmen – zumindest fühlte es sich für mich mit knapp 9 Jahren so an, als ich Ende November 1970 mit einer unübersichtlichen Nachbarsfamilie im Schlepptau ins brandneue Kaufhaus Pilar stolperte. Der Beton gewordene Zukunftstraum am Bremer Tor war für uns Kinder das, was heute ein dubaisches Einkaufszentrum mit Indoor-Surfwelle wäre: überwältigend, ein bisschen unheimlich und gleichzeitig das Größte überhaupt. Aus unsichtbaren Lautsprechern tönten sonderbare Ansagen („14 bitte 38“), dazwischen James Last und immer wieder der „Song of Joy“ von Miguel Ríos, damals wie heute zu Tränen rührend. „Die Stadt ohne Rolltreppe hatte plötzlich eine – und heute, man glaubt es kaum, hat sie wieder keine.“ Elegante Damen im Vivi-Bach-Look verteilten Schokoladenpröbchen, die wir deutlich besser fanden, als die ortsübliche DDR-Ware von Aldi. Wir aßen mit Andacht und fuhren Rolltreppe, immer wieder, hinauf elektrisch, hinab zu Fuß. Die Stadt ohne Rolltreppe hatte plötzlich eine – und heute, man glaubt es kaum, hat sie wieder keine. Die Lokalzeitung beschrieb das mit dem gebotenen Enthusiasmus der frühen 70er Jahre. Ein gewisser Josef von Pilar, Chef aus Bad Godesberg, versprach nichts weniger als ein „Großstadtsortiment“ für Downtown Vechta. Paris-Reise, Hippie-Mäntel, Möbel, Teppiche – alles war möglich, alles klang nach Aufbruch. Pilar, damals schon mit 20 Warenhäusern gesegnet, wollte Vechta aus dem Hinterlandzauber wachküssen. Internationale Mode, ein Supermarkt mit Tuborg-Bier, Whisky aus Amerika, Reisschnaps aus Asien – kurz: Die Welt war zu Gast. Am Bremer Tor in Kleinbonum. Des Nachbarn alter Vater staunte über die Spezialabteilungen: Geschenk-Boutique, Porzellan-Studio, Feinschmecker-Service. „110 Beschäftigte wuselten angeblich durch die Gänge, und der Chef murmelte, es seien eigentlich zu wenig.“ Man ahnte, wie Vechta zur Metropole heranreifte, irgendwo zwischen Buxtehude und Aurich, wo weitere Pilar-Häuser standen wie Botschaften einer verheißungsvollen Konsumzukunft. 110 Beschäftigte wuselten angeblich durch die Gänge, und der Chef murmelte, es seien eigentlich zu wenig. Beratung sollte großgeschrieben werden, hieß es. Niemand werde alleine gelassen. Wahrscheinlich hätte man sich gar bei der Auswahl eines staubigen Whiskys helfen lassen können. Heute, mehr als ein halbes Jahrhundert später, ist der alte Glanz perdu. Pilar ist Geschichte, die Rolltreppe ebenfalls. Und immer, wenn irgendwo das alte Miguel-Ríos-Lied erklingt, denk ich daran, wie sich damals die Welt anfühlte: als könne sie jeden Moment beginnen.Zur Person
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