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Die Engel singen

Kolumne: Notizen aus dem wahren Leben – Himmlische Fleißkärtchen und das Punktekonto werden heute oft ersetzt durch Klicks im Internet, Anerkennung des  Umfeldes oder den eigenen Perfektionsanspruch.

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Als ich Ende der 70er Jahren ins Oldenburger Münsterland kam, war es noch richtig schwarz. Und ich traf etliche fromme Menschen, deren Vorstellung vom Himmel weniger Bethlehem war als Flensburg. Ein Himmel wie eine Verkehrssünderkartei, nur eine, die unendlich schien und allwissend. Alles wurde geblitzt. „Ein Auge ist, das alles sieht, auch was in dunkler Nacht geschieht.“ Und alles wurde gespeichert, für immer und ewig wurde der Lebenslauf kontrolliert und registriert.

Es gab auch himmlische Fleißkärtchen, vor allem aber wurde festgehalten, was verkehrt läuft. Auf dem Punktekonto standen selten Pluspunkte. Meine lebensfrohe Mutter hat mich vor diesem Himmel bewahrt. Sie hat mich als Kind spüren lassen, was die biblischen Seher und die Maler des Mittelalters immer schon wussten: Die Engel und himmlischen Chöre haben für die Kontrolle und Archivierung menschlicher Schwächen gar keine Zeit.

Sie haben eine andere Aufgabe und Leidenschaft. Sie singen. Sie stimmen ein in das Große Ja zum Leben. Das ist nicht das eintönige „Luuhja“, das der Münchener im Himmel brummt. Der Gesang der Engel ist vielstimmig. Helle und dunkle Stimmen, hohe und tiefe, laute und leise, frohe und traurige ergeben zusammen die himmlische Harmonie. Und, so steht es in den Psalmen, die Sterne und Bäume, die Vögel und Kinder singen mit ihnen das Loblied des Lebens.

"Die Engel und himmlischen Chöre haben für die Kontrolle und Archivierung menschlicher Schwächen gar keine Zeit."

Ich hoffe, dass die Maler und Dichter Recht haben. Ich habe leider keinen Einblick in die himmlischen Zustände. Aber ich weiß, dass es sich auf der Erde bemerkbar macht, unter welchem Himmel man sich glaubt. Ob über und in mir ein Himmel installiert ist, der Überwachung und Überforderung bedeutet. Oder einer, der kalt ist und leer und dem ich gleichgültig bin. Oder ob der Himmel über und in mir voll Gesang ist. Tröstlich wie ein Wiegenlied. Geheimnisvoll wie ein gregorianischer Choral. Erhebend wie eine Mozart-Messe. Voll Lebensfreude wie ein irischer Tanz.

Heute werden die meisten Menschen ihr Lebensgefühl wohl nicht mehr in religiösen Bildern entdecken. Aber wenn die himmlischen Kontrollorgane ersetzt werden durch die Klicks im Internet, die Anerkennung meines „gesellschaftlichen Umfeldes“ oder den eigenen Perfektionsanspruch, dann wird der Druck nicht geringer. Die Strichliste bleibt.

Aber wo wir mit den Engeln singen, vielleicht nicht selten in Moll, vielleicht oft eher Blues als Jubelarien, da stimmen wir doch ein ins Leben. Und da gibt es nichts zu verdienen. Kein Punktekonto. Ob es ein Kuss ist oder ein Kirchgang, eine Geschichte für die Enkelin oder ein Frühlingsstrauß für meine Frau – was immer ich tue, weil ich das Leben liebe und dankbar bin für dieses Wunder, das hat seinen Wert in sich. Oder es hat keinen. Mit dem Himmel wie mit dem Leben kann ich singen. Aber keine Geschäfte machen.


Zur Person:

  • Heinrich Dickerhoff ist Akademiedirektor in Rente, Hausmann und arbeitet als freiberuflicher Dozent. Er wohnt in Cloppenburg.
  • Den Autor erreichen Sie unter: redaktion@om-medien.de.

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