Die Tränen des Merz
Thema: Wie viel Emotion dürfen Politiker zeigen?
Werner Kolhoff | 27.10.2023
Thema: Wie viel Emotion dürfen Politiker zeigen?
Werner Kolhoff | 27.10.2023
Als Journalist bekommt man berufsbedingt manchmal Dinge zu sehen, die man nur schwer vergisst. Auf einem Schiff des italienischen Grenzschutzes zeigte man uns in Sizilien einmal einen Film von den Einsätzen. In einer Szene erfasste der Scheinwerfer auf dem nachtschwarzen Mittelmeer einen Punkt, der sich schließlich als eine Frau entpuppte, die sich an einer treibenden Leiche festhielt. Ich sah am Breitscheidplatz in Berlin die verzweifelten Bemühungen der Rettungssanitäter und den schweren Lastwagen, der die Buden des Weihnachtsmarktes unter sich zermalmt hatte. Und in New York stand ich eine Woche nach den Anschlägen vor den noch rauchenden Trümmern des World Trade Center. Es roch metallen. "Ohne die eigene Anschauung wäre jedes Urteil unvollständig, weil ihm ein zentrales Element fehlte: die Empathie." Wenn man so etwas sieht, begreift man erst die Dimension solcher Ereignisse, die Wucht und das Leid, und natürlich beeinflusst das das eigene Urteil. Man könnte aber auch sagen: Ohne die eigene Anschauung wäre jedes Urteil unvollständig, weil ihm ein zentrales Element fehlte: die Empathie. Von Politikern verlangt man deshalb, dass sie gerade in schwierigen Fragen "dahin gehen, wo es wehtut", wie es Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel einmal formuliert hat. Nicht alle tun es. Viele reden zum Beispiel über Flüchtlinge, aber nie mit ihnen. Mit Friedrich Merz hat jetzt ein Spitzenpolitiker im Fall des islamistischen Terrors gegen Juden in überraschender Weise Emotion und Empathie gezeigt. Gerade ihm hätte man das nicht zugetraut. Doch Merz sprach beim Deutschlandtag der Jungen Union mit brechender Stimme über die Angst der hier lebenden Juden, und man sah, wie sehr er geschockt war über das, was er von den Betroffenen gehört hatte. Das war auch der ehrliche Schock darüber, dass wir 80 Jahre nach dem Holocaust noch nicht viel weiter sind. Ähnlich Annalena Baerbock, die bei ihrem Sofortbesuch in Israel nach dem Angriff Angehörige der Verschleppten traf und einen zerstörten Kibbuz besuchte. Sie, Mutter zweier Kinder, konnte und wollte vor den Kameras nicht verbergen, was das mit ihr machte. Beiden war die Häme im Netz sicher. Alles nur gespielt, Politiker weinen nicht, Politiker haben kühl zu sein. Und wenn, dann haben sie sich gefälligst auch das Leid der anderen Seite anzuschauen. Das alles wurde gepostet. Ich finde, wir sollten froh sein über jeden Politiker, der noch ein Herz hat und es zeigt. Der sich konfrontiert mit den Dingen. Der Mensch geblieben ist. Schreibtischtäter, Technokraten und Ignoranten gibt es wahrlich genug auf der Welt.
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