Die Europäische Union wird politischer Akteur
Der Leitartikel zum Europatag: Tritt die Ukraine in die EU ein, verschieben sich die Gewichte nach Mitteleuropa.
Professor Dr. Peter Nitschke | 13.05.2023
Der Leitartikel zum Europatag: Tritt die Ukraine in die EU ein, verschieben sich die Gewichte nach Mitteleuropa.
Professor Dr. Peter Nitschke | 13.05.2023
Diese Woche ist am 9. Mai der Europatag gewesen, jener Tag, an dem die Europäische Union sich auf die Grundlagen besinnt, weshalb sie überhaupt entstanden ist. Der 9. Mai ist der Jahrestag der Erklärung von Robert Schuman, der als Außenminister Frankreichs seinerzeit (1950) mit der Idee von der Schaffung einer gemeinsamen Zollunion für Kohle und Stahl den wesentlichen Anstoß für das Integrationsprojekt gegeben hat, das heute, mehr als 70 Jahre später, als EU eine deutlich größere Dimension in politischer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht eingenommen hat, als dies damals zunächst überhaupt vorstellbar gewesen ist. Kohle und Stahl waren seinerzeit die zentralen Rohstoffgüter für die klassische Rüstungsindustrie, deshalb war die Schuman-Erklärung auch ein Hinweis für die Überwindung der Freund-Feind-Strukturen, die in den Ersten und in den Zweiten Weltkrieg geführt haben. Die deutsch-französische Freundschaft ist daher ein fundamentales Lernergebnis aus den beiden Weltkriegen. Allerdings gilt dies nur für Westeuropa, denn gerade die Gegenwart zeigt in aller Deutlichkeit, wie weit die gemeinsame zivile Friedensordnung der EU zwar gekommen ist, aber auch brutal, wo und wie ihre Grenzen sind. Denn der Frieden in Europa hängt nicht von Brüssel ab. Diese idealisierende Selbstzuschreibung der EU-Promotion funktioniert seit dem 24. Februar 2022 nicht mehr. Und so ist der 9. Mai 2023 auch nicht von den rituellen Erinnerungsformaten in Brüssel, Luxemburg oder Straßburg bestimmt worden, sondern von zwei anderen symbolischen Auftritten, die jenseits der EU liegen, mit dem Leistungsanspruch der EU aber zentral zu tun haben. Da ist zum einen der Auftritt Putins anlässlich der traditionellen Militärparade in Moskau gewesen, die nun genau auch schon immer an diesem Tag stattfindet, weil man aus sowjetischer beziehungsweise russischer Sicht an diesem Tag das Ende des Weltkrieges und die Überwindung von Nazi-Deutschland gedenkt. Im zweiten Kriegsjahr der Kämpfe in der Ukraine hat diese Militärparade aber eine ganz andere Funktion, was Putin auch in seiner Rede deutlich gemacht hat: eine Kampfansage an den (angeblich bösen) Westen, damit inklusive auch an die EU. Gleichzeitig gab es weiter westlich von Moskau, in Kiew, eine andere, ebenso wichtige symbolische Geste, nämlich die Zusammenkunft von Frau von der Leyen als Kommissionspräsidentin mit dem Staatspräsidenten Selenskyi. In Kiew versicherten beide Seiten damit demonstrativ die nachhaltige Hinwendung der Ukraine zur EU. Zuvor hatte Selenskyi bereits bekannt gegeben, dass die Ukraine das Ende des Zweiten Weltkrieges am 8. Mai feiern wird, während zukünftig der 9. Mai als Europatag gewürdigt werde. Das sind mehr als nur symbolische Petitessen: damit vollzieht sich auf dramatische Weise (mitten im Krieg) ein Umbau der europäischen Nachkriegsordnung. Die EU avanciert nach ihrem jahrlangen lediglich proklamierten Selbstverständnis de facto zu einem wirklichen politischen Akteur, wobei ihr jedoch in vieler Hinsicht noch die zentralen Steuerungsmittel fehlen. Klar ist aber, dass seit dem Dienstag dieser Woche Europapolitik nicht mehr allein von Brüssel (oder gar Berlin) aus gedacht werden kann. Denn wenn man eines nicht so fernen Tages die Ukraine tatsächlich in die EU aufnehmen wird, dann verschieben sich die Gewichte nach Mitteleuropa. Zum Teil hat diese Verschiebung schon begonnen.Militärparade bekam dieses Jahr eine andere Funktion
"Die EU avanciert nach ihrem jahrlangen lediglich proklamierten Selbstverständnis de facto zu einem wirklichen politischen Akteur, wobei ihr jedoch in vieler Hinsicht noch die zentralen Steuerungsmittel fehlen."Professor Dr. Peter Nitschke
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