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Schreiend und tretend singe ich „Oh Tannenbaum“

Kolumne: Persönlichkeitskrisen nehmen viele Formen an. Meine schmeckt nach Lebkuchen, Anis und freundschaftlicher Manipulation.

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Am Ende kriegen sie einen ja doch. In meinem bisherigen Leben war Weihnachten nie ein großes Ding. Und dann lernte ich sie kennen: meine Freunde. So gern ich die Guten habe, sie haben ein Problem: Sie lieben Weihnachten. Und da kann ihnen keiner das Wasser – Pardon, den Glühwein – reichen.

Als Mensch, der nur auf dem Papier katholisch ist, und meist nicht einmal einen obligatorischen Weihnachtsbaum besitzt, war mir das eher fremd. Klar, ich möchte kein Stimmungskiller sein, die Stimmung soll aber auch nicht in meine Nähe kommen. Dieser Zustand sollte sich in diesem Jahr ändern.

Es fängt klein an. Sie nähern sich über Dinge, die mir lieb sind. Als wär ich ein Hund, der eine mit Tabletten bespickte Leberwurst aufschlabbern soll, wird mir Kürbisgewürz in den Kaffee gemischt, Zimt über das Gebäck gepudert und eine flauschige Socke übergestülpt. Und bevor ich mich versehe, lächelt mich der Weihnachtsmann von seinem neuen Platz auf meinem Fuß an.

Okay, sage ich mir. Wir alle rutschen mal aus. Dann folgt der nächste Schockmoment. Bei meinem abendlichen Spaziergang sehe ich die erste Weihnachtsdekoration in den Schaufenstern und wechsle fast die Straßenseite, um sie mir näher anzuschauen. Neugierde trifft auf Prinzip. Ich verliere auf meinem strauchelnden hohen Ross das Gleichgewicht.

„Die heiße Tasse Kakao brennt, zitternd greife ich zum Spekulatius und hoffe, dass mich niemand sieht.“

Schließlich habe ich trotz meiner Weihnachts-Abgeneigtheit die Lichterketten und Dekorationen in den Ortskernen immer geliebt. Ich bin doch auch nur ein Mensch. Das Funkeln bringt ein wenig wohlige Wärme in diese bitterdüstere Zeit. Dieses Eingeständnis wiegt schwer wie Christstollen.

Ist das etwa der Anfang vom Ende? Das Siegel scheint gebrochen, ich verliere die Kontrolle, kaufe eine Kerze, die nach Tannenbaum riecht, suche Plätzchenrezepte heraus und google „Weihnachtsmärkte Nordwesten“. Bei einem Trip, um die Weihnachtsangebote bei Ikea anzuschauen, teste ich Spekulatius-Schokolade und Lebkuchen-Zimtschnecken. Ich stehe völlig neben mir. Noch im letzten Moment kann ich mich davon zurückhalten, schon im November einen Weihnachtsfilm anzuschauen. Wer bin ich? Was ist mit mir passiert?

Das plötzliche Verlangen, ein Lebkuchenhaus zu bauen und meine Freunde zu fragen, ob wir wichteln wollen, kommt in mir auf. Mir läuft es kalt den Rücken herunter. Ich muss mich beruhigen. Die heiße Tasse Kakao brennt, zitternd greife ich zum Spekulatius und hoffe, dass mich niemand sieht. Wie Blei muss ich die Wahrheit herunterschlucken: Es ist schon zu spät. Ich bin in ihren handschuhverpackten Klauen.

Was mir jetzt noch bleibt, ist die Hoffnung, dass Mariah Carey mir wieder Verstand in die Ohren singt. Denn wenn ich nach 3 Jahren Vollzeitjob neben dem Vechtaer Weihnachtsmarkt eines gelernt habe, ist es das: Nichts zerstört die Stimmung schneller als Weihnachtslieder. Es scheint schließlich nur rund fünf von ihnen zu geben. Da nützen auch die Lichterketten nichts.

So viel zum Kein-Stimmungskiller-Sein. Ganz überzeugt bin ich also noch nicht.


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