Die Generation der Vielen und ein kopfloses Huhn
Meine Woche: Die Jüngeren werfen uns Babyboomern vor, tatkräftig am Niedergang des Planeten mitgezimmert zu haben. Echt jetzt?
Karin Heinrich | 28.07.2024
Meine Woche: Die Jüngeren werfen uns Babyboomern vor, tatkräftig am Niedergang des Planeten mitgezimmert zu haben. Echt jetzt?
Karin Heinrich | 28.07.2024
Kennen Sie das auch: Sie wachen eines Morgens auf und sind 63? Das bedeutet in der Regel zweierlei: 1.) Sie haben Geburtstag, 2.) Sie sind ein Babyboomer. Und damit haben Sie so viel Schuld auf sich geladen, dass Sie sich in Grund und Boden schämen sollten. Schließlich haben Sie tatkräftig am Niedergang des Planeten mitgezimmert. Wir Boomer, geboren zwischen 1946 und 1964, sind inzwischen die Fußabtreter des 21. Jahrhunderts. Nonstop hacken die jüngeren Generationen auf uns herum und ätzen „Ok-Boomer“, wenn sie sich über unsere angebliche Borniertheit ärgern. Was haben wir bloß getan, um so viel Gemobbe zu verdienen? „Während ich auf Teer und Federn warte – eine gerechte Strafe für eine Umweltsau wie mich –, schweift mein Blick in die Vergangenheit.“ Angeblich konsumieren wir hemmungslos, scheren uns einen Dreck um die Umwelt, pflügen auf Schweröl rotzenden Kreuzfahrtschiffen durch die Weltmeere und jagen mit unseren dicken SUVs unschuldige Radfahrer. Noch dazu sind wir peinlich, tippen wir doch mit einem Finger auf dem Smartphone herum und benutzen Emojis falsch. Und was das Fass endgültig zum Überlaufen bringt: In den nächsten Jahren verabschieden sich 13 Millionen von uns in den Ruhestand und sind somit auch noch schuld am Fachkräftemangel. Nun, das hört sich wirklich nach Abschaum an. Bevor ich mich demütig in den Staub werfe, flüstere ich beschämt: Wir hatten es aber auch nicht immer leicht! In meinem Geburtsjahr 1961 kamen in Deutschland mehr als 1,3 Millionen Babys auf die Welt, also in etwa doppelt so viele wie vergangenes Jahr. Solche Zahlen würden heutige Städteplaner in den Selbstmord treiben. Wohin mit all den Blagen, die Kita-, Schul- und Studienplätze oder Lehrstellen und später Wohnungen brauchen? Wir Boomer sind die Generation der Vielen. Schon in der Grundschule drängelten wir uns mit mindestens 38 anderen in der Klasse. Wer da bemerkt werden wollte, musste schon einen Clown gefrühstückt haben. Nach der Schulzeit ging das Geschubse weiter. Eine Nonstop-Reise nach Jerusalem. Wo immer man auch hin wollte, der Platz war schon besetzt. Nach dem Studium sofort in den Traumjob? Von wegen, zuerst musste man diverse Konkurrenten vorbeilassen. Viele können auch viel Mist bauen, doch haben wir Boomer wirklich die Erde ruiniert? Während ich auf Teer und Federn warte – eine gerechte Strafe für eine Umweltsau wie mich –, schweift mein Blick in die Vergangenheit. Als ich Kind war, wurden bei uns zu Hause kaputte Socken gestopft statt weggeworfen, man schnäuzte sich in Stofftaschentücher statt in Tempos, und Windeln wurden gewaschen, also nix mit Pampers. Wir Kinder haben draußen gespielt, statt vor der Glotze und ihren drei Programmen zu hocken. Meine Oma hat Obst und Gemüse aus dem Garten eingekocht und auch schon mal ein Huhn geschlachtet, das dann kopflos vor ihr zu türmen versuchte (dieses Bild werde ich nie mehr aus dem Kopf bekommen, und wenn ich 93 werde!). Verschwendung von Nahrungsmitteln war Frevel, dann gab's ein mächtiges Donnerwetter. Hm, kann bei so viel naturnaher Prägung tatsächlich ein Übel-Boomer herauskommen? Gedanklich springe ich ins Hier und Jetzt. So mancher 16-Jährige heute hatte schon mehr Handys als ich, und ich fahre gerade mein insgesamt viertes Auto – alles Kleinwagen. Lebensmittel wegwerfen? Ein absolutes No-Go! So ein Schafskäse ist oft Wochen nach dem Ablaufdatum noch essbar, auch wenn er Fäden zieht. Was eingekauft wurde, muss nun mal ins Verdauungssystem. Für die Figur ist das nicht von Vorteil – schon meine Mutter aß die Reste von uns Kindern auf und ging dabei aus dem Leim. Sie fürchtete wohl immer noch das Donnerwetter… Wenn ich morgen aufwache, bin ich 63. Schämen tu’ ich mich nun doch nicht – ich glaube, ich bin ein Ok-Boomer!Viele können auch viel Mist bauen, doch haben wir Boomer wirklich die Erde ruiniert?
Schämen tu’ ich mich nun doch nicht
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