Märchenhafte Eltern?
Kolumne: Notizen aus dem wahren Leben – Mütter und Väter in Märchen sind meist alles andere als märchenhaft. Ein Ideal sollen sie aber gar nicht sein. Sie ermutigen uns, erwachsen zu werden.
Dr. Heinrich Dickerhoff | 30.03.2023
Kolumne: Notizen aus dem wahren Leben – Mütter und Väter in Märchen sind meist alles andere als märchenhaft. Ein Ideal sollen sie aber gar nicht sein. Sie ermutigen uns, erwachsen zu werden.
Dr. Heinrich Dickerhoff | 30.03.2023

Hatten Sie märchenhafte Eltern? Sind Sie eine märchenhafte Mutter? Ein märchenhafter Vater? Hoffentlich nicht. Denn Märchen-Eltern sind meist alles andere als vorbildlich. Bösartige Mütter trachten ihren Kindern nach dem Leben. „Wenn ein schwarzer Vogel kommt“, sagt die Mutter in einem karibischen Märchen zu ihrer kleinen Tochter, die auf ein Bündel Feigen achtgeben soll, „jag ihn fort. Denn komme ich zurück und der Vogel hat die Feigen gefressen, so töte ich dich!“ Die Mutter geht, verwandelt sich in einen schwarzen Vogel, kommt zurück und frisst die Feigen. Da wird nicht erzählt von zu wenig Brot. Nicht vom Neid auf die Schönheit der Jugend. Nicht von anderen Kindern, die der (Stief-)Mutter lieber sind. Nur von absurd grundloser Bosheit. Märchenväter sind nicht besser. Sind nicht da, wenn man sie braucht, beschützen ihre Kinder nicht, werden übergriffig oder bestrafen maßlos. Die meisten Märchenfamilien wären ein Fall fürs Jugendamt. In Märchen können die Kinder am guten Ende ihren schrecklichen Eltern entkommen. Aber warum wird so oft von bösen Müttern und Vätern erzählt? War das so? Ist das so? Nein, die Märchen spiegeln nicht die Alltagswelt, sondern wie unsere Träume eine Innenwelt. Der Märchenwolf, der Rotkäppchen und ihre Großmutter lebendig verschlingt, läuft nicht durch unsere Wälder. Und die Märcheneltern sind nicht die Eltern, die wir sind oder hatten. Die Gestalten, denen die Märchenkinder begegnen und wir mit ihnen, stehen für Lebens-Erfahrungen, die wir machen. „Die meisten Märchenfamilien wären ein Fall fürs Jugendamt.“ „Mutter“ – eine Rolle, nicht zwingend eine Person – ist unsere erste Erfahrung in der Welt: Jemand stillt all meine Bedürfnisse. Ohne diese Zuwendung kann kein Kind überleben. Aber was wir zunächst notwendig brauchen, müssen wir dann hinter uns lassen, um eigenverantwortlich zu leben. Wir müssen lernen, dass kein Mensch, weder Eltern noch Partner, weder Kirche noch Staat all meine Wünsche erfüllen wird und kann. Die Rolle „Vater“ bedeutet: Jemand kann alles in Ordnung bringen. Auch dieses Versprechen brauchen Kinder, um sich ins Leben zu trauen. Wirklich einlösen können wir es nicht. Kein Mensch, keine Kirche, kein Staat wird und kann alles für mich in Ordnung bringen. Verlasse die Erwartungen, die du als kleines Kind haben darfst, sagen uns die Märchen. Verlasse Vater und Mutter, nennt das die Bibel. Übernimm Verantwortung für dich selbst. Sorge für deine Wünsche, auch wenn sich nicht alle erfüllen werden. Und halte aus, dass dein Leben nicht ganz in Ordnung sein wird. Warte nicht auf Mama oder Papa, wenn es schwierig wird. Werde erwachsen. Das ist nicht mit 18 erledigt. Das bleibt eine lebenslange Herausforderung. Aber wir können es schaffen. Dazu ermutigen uns jedenfalls die Märchen.
Zur Person:
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