Das Nachrichtenportal vonMünsterländische Tageszeitung MT undOldenburgische Volkszeitung OV

Unwirkliche Wirklichkeit

Kolumne: Notizen aus der Sprachebene

Artikel teilen:

Am vergangenen Sonntag gingen wir bei bestem Wetter um den Dammer Bergsee. Viele Spaziergänger. Alle im Gänsemarsch. Zwischen den Leuten ein Abstand von 100 Metern, und als wir einer Theaterkollegin begegneten, blieben wir im gehörigen Abstand von drei Metern voreinander stehen. Sie rief uns zu: Ich kann es einfach nicht begreifen. Alles ist unwirklich. Als würde es das gar nicht geben.

Es ist tatsächlich kaum zu glauben. Das Wetter spielt mit, die Kinder klettern auf die Bank und zeigen auf den Dammer Dom. Sie lachen, als gäbe es keine uns bombardierende Meldungen über Corona, über Infizierte, Genesende und Tote. Und als überdies auch noch das Smartphone vibrierte, lief ein Filmchen über das Display. Spanische Freunde hatten es uns geschickt, und wir mussten erstaunt sehen, was aus dem einst brodelnden Conil de la Frontera, einem Küstenort an der atlantischen Küste, geworden ist. Diese im Sommer von Tausenden Touristen überquellende Kleinstadt war zu einer Geisterstadt geworden. Eine weiße Stadt, weißer Strand, aber ohne irgendeinen Menschen. Die Straßen steril, auf dem Strand nicht einmal ein herumstreunender Hund, und der Platz vor der Kirche, wo sich Ostern während der Semana Santa Tausende einfinden, um die prächtige Prozession mitzufeiern, war verlassen, als hätten die Menschen sich in die Berge verkrochen. Als hätte ein unbekanntes Virus die Macht in der Stadt übernommen.

„Da dachte ich, ich würde in einem Science-Fiction-Film mitspielen. Und das Gefühl von Weltuntergang begann zu keimen.“

Bernd Kessens, Schriftsteller

Und damit diese Vermutung auch noch stimmt, bekamen wir ein Foto von Pepe, der in Deutschland als Busfahrer eingesetzt ist, aber nun wegen des stark eingeschränkten öffentlichen Personenverkehrs in den Zwangsurlaub geschickt worden war. Er hatte das Foto kurz vor dem Abflug nach Hause in einem Iberia-Flugzeug aufgenommen. Ein vereinsamtes Flugzeug mit vielleicht zehn Passagieren auf dem Weg nach Jerez. Einfach skurril, einfach unwirklich, besonders, wenn man daran denkt, wie oft man sonst im Flugzeug wie Hühner auf der Stange sitzen musste.

Als ich am Montag bei einer Firma die Motorsäge abholen wollte, war aus Sicherheitsgründen die Werkstatttür verschlossen, und im Laden stand eine Kundin mit Mundschutz am Tresen, und als ich mich vorschriftsmäßig anstellte, kam ein Bote mit Werkzeugteilen durch die Tür – auch mit Mundschutz. Und mit Handschuhen. Da dachte ich, ich würde in einem Science-Fiction-Film mitspielen. Und das Gefühl von Weltuntergang begann zu keimen. Aber erleben andere dieselbe Stimmung wie ich?

Täglich rufe ich im Internet die „Zeit“ auf. Da wird gefragt: Wie geht es Ihnen heute? Gut oder schlecht? Da ich das regelmäßig mache, um die eigene Stimmung mit der der anderen zu vergleichen, weiß ich, dass es seit Jahren zwei Dritteln der Zeit-Leser gut geht. In Zeiten des Corona-Virus müsste die Stimmung aber deutlich schlechter sein. Stimmt aber nicht. Fast täglich sehe ich um 10 Uhr, dass es 80 Prozent der Zeit-Leser gut geht. Eine echte Überraschung.

Gut und kompakt informiert zum Feierabend: Abonnieren Sie jetzt kostenlos unseren neuen WhatsApp-Kanal und erhalten den Newsletter „N'Abend, Oldenburger Münsterland“. Und nicht vergessen, die Benachrichtigungen auf dem Glocken-Symbol zu aktivieren! Hier geht es direkt zum WhatsApp-Kanal

Hier klicken und om-online zum Start-Bildschirm hinzufügen

Unwirkliche Wirklichkeit - OM online