Keimreiche Rituale
Kolumne: Notizen aus dem Südkreis - Bernd Kessens durchleuchtet, was es mit dem Händeschütteln auf sich hat und ob Corona das endgültige Aus dieser Tradition bedeutet.
Bernd Kessens | 05.06.2020
Kolumne: Notizen aus dem Südkreis - Bernd Kessens durchleuchtet, was es mit dem Händeschütteln auf sich hat und ob Corona das endgültige Aus dieser Tradition bedeutet.
Bernd Kessens | 05.06.2020
Dort, wo ich geboren wurde, gab man sich nicht oder nur selten die Hand. Mein Vater etwa gab uns zum Beispiel nur zum Geburtstag die Hand. Ein Lehrer gab bei Elternsprechtagen den Eltern grundsätzlich nicht die Hand, und wir Kollegen mutmaßten, das habe mit seinem Waschzwang zu tun. Und ein alter SPD-Genosse wollte mir unter Beweis stellen, dass er der stärkste Mann der Welt sei, und deshalb quetschte er meine Hand zu Brei. Und wenn ich ihn heute schon in der Ferne sehe, streife ich vorsorglich meinen Ehering ab. Im Nachhinein betrachtet war wahrscheinlich der Lehrer der Weitsichtigste, denn er kannte die großen Gefahren des Händeschüttelns. Neun von zehn Infektionen werden auf diesem Wege weitergereicht, das hat die Wissenschaft ermittelt. Die rechte Hand ist so etwas wie ein Dosierspender für Keime, Bakterien und Viren. Ich las in einer Statistik, dass zwei Drittel der deutschen Männer und ein Drittel der Frauen sich nach einem Toilettenbesuch nicht die Hände waschen. Das hätte ich nicht gedacht. Bei den Männern schon, aber bei den Frauen nicht. Überraschenderweise ist aber die Toilette nicht die größte Infektionsbrutstätte. Der mit Keimen am stärksten belastete Ort ist die Haltestange in öffentlichen Bussen. Weil die Menschen – seien sie erkältet oder vergrippt - dort beherzt zufassen, hinterlassen sie ein buntes Allerlei an Keimen. Kein Wunder, dass sich dort Milliarden Erreger tummeln, obwohl die Busse morgens gereinigt und desinfiziert werden. " ... und wir werden uns eines Tages, wenn alles hinter uns liegt, fragen, ob wir dieses keimreiche Ritual wiederaufnehmen werden." Das Gefährlichste aber ist nicht der Griff an die Stange, sondern der Handschlag, den die Welt seit dem 18. Jahrhundert pflegt. Kaum sieht man einen Bekannten im Supermarkt oder beim Theater, zuckt die Hand pfeilförmig nach vorn, und der andere hat keine andere Chance, als diese Hand zu drücken. Das ist Tradition, ein uns allen bekanntes Ritual. Als ich noch im Kreistag war, begrüßten sich vor der Sitzung 50 Abgeordnete. Und wie viele Hände wurden geschüttelt? Das ist eine mathematische Herausforderung: Binomialkoeffizienten „2 aus 50“ (50 x 49) : 2 = 2.450 : 2 = 1.225 Händeschütteleien in zehn Minuten. Im Mittelalter war es noch sinnvoll, sich bei der Begrüßung die Hand zu geben. Denn der Ritter musste vorher seine Lanze aus der Hand legen; insofern war der Handschlag eine Gewähr, friedensbereit zu sein und die Waffen im Schrank zu lassen. Der Handschlag der Ritter war eine Geste der friedlichen Koexistenz; die Bürger machten diese nach. Das Coronavirus aber hat uns das erprobte Händeschütteln vermasselt, und wir werden uns eines Tages, wenn alles hinter uns liegt, fragen, ob wir dieses keimreiche Ritual wiederaufnehmen werden.
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