Interview: Fachkräfte an deutschen Schulen nehmen häufig religiös motivierte Konflikte wahr
Im Interview erläutern die Projektleiter Professorin Dr. Margit Stein von der Universität Vechta und Professor Dr. Mehmet Kart von der Hochschule Bremen die Einzelheiten.
Etwa ein Drittel der pädagogischen Fachkräfte an deutschen Schulen nehmen unter Schülern religiös motivierte Konflikte wahr und empfinden dies als Herausforderung. Die Wahrnehmung von Lehrern und Sozialarbeitern bezieht sich häufig auf tatsächliche, aber auch vermeintliche Konflikte sowie religiös teils radikalisierte Einstellungen.
Bisherige Ergebnisse einer laufenden Studie eines Kooperationsprojekts zwischen der Universität Vechta und der IU Internationale Hochschule Bremen zeigen, dass Lehrer in ihrer Arbeit besser unterstützt werden sollten. Der Blick liegt hier vorrangig auf muslimischen Schülern, während Schüler anderer Religionen kaum erwähnt werden. Dies kann zu vorschnellen Urteilen und einer Stigmatisierung muslimischer Schüler führen.
Im Interview erläutern die Projektleitende Professorin Dr. Margit Stein von der Universität Vechta, Erziehungswissenschaften, und Professor Dr. Mehmet Kart, IU Internationale Hochschule Bremen, Fachbereich Soziale Arbeit, die Einzelheiten.
Ihr Projekt „Distanz: Strukturelle Ursachen der Annäherung an und Distanzierung von islamistischer Radikalisierung – Entwicklung präventiv-pädagogischer Beratungsansätze“ zielt auf die Erforschung strukturell-gesellschaftlicher Faktoren der Distanzierung und Deradikalisierung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert das Projekt, das im Oktober beendet wird.
Projektleiterin: Professorin Dr. Margit Stein. Foto: Privat
Professorin Stein, Professor Kart, Ihre Studie offenbart eine wesentliche Herausforderung für Schulen in Deutschland. Was ist das Ziel Ihrer Untersuchung und worum geht es im Kern bei Ihren Ergebnissen? Professorin Dr. Margit Stein: Lehrkräfte und Schulsozialarbeiter stehen häufig vor Herausforderungen, die sich aus vermeintlich oder tatsächlich religiös motivierten Konflikten und religiös radikalisierten Einstellungen ergeben. Das Hauptziel dieser Studie war es deshalb, ein vertieftes Verständnis für ihre Sicht bezüglich der Charakteristika dieser Konflikte zu gewinnen und daraus Schlussfolgerungen für die Weiterentwicklung des schulischen Umfelds als Ort des Lernens und der Erfahrung im Kontext religiöser Vielfalt zu ziehen.
Die Ergebnisse unserer Studie zeigen nun deutlich, dass die Begegnung mit religiöser Vielfalt in Schulen von Fachkräften oft als herausfordernd wahrgenommen wird. Besonders auffällig ist dabei die Tendenz, verschiedenartige Verhaltensweisen und Aktivitäten der Schüler – oftmals mit religiösem Hintergrund – schnell als Anzeichen islamistischer Radikalisierung zu interpretieren. Dies kann ein Hinweis darauf sein, dass provokantes Verhalten von muslimischen Schülern stärker problematisiert wird, als gleiches Verhalten von nicht-muslimischen Schülern.
Projektleiter: Professor Dr. Mehmet Kart. Foto: Privat
Vor Kurzem gab es erneut eine Diskussion um religiöse Konflikte an Schulen. Inwieweit stehen solche Fälle in Deutschland in Verbindung mit Ihrer Studie? Professor Dr. Mehmet Kart: Anfang des Jahres 2024 rückte der Bereich der religiös motivierten Konflikte an Schulen wieder in das Interesse der Öffentlichkeit im Zuge der medialen Berichterstattung um eine als „Scharia-Polizei“ bezeichnete mutmaßliche Gruppe von vier Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen 17 und 19 Jahren, die an einer Schule als Sittenwächter auftraten, um insbesondere andere muslimische Mitschüler, die ihr Verständnis des Glaubens und des Praktizierens nicht teilten, physisch und psychisch unter Druck zu setzen.
In der jüngeren Vergangenheit stieß außerdem eine Initiative des Neuköllner Bezirksamts auf Kritik, da sie Konflikte auf die Religionszugehörigkeit reduziert und den Blick auf pädagogische Lösungen verstellt. Das Amt hatte eine „Anlauf- und Dokumentationsstelle für konfrontative Religionsbekundungen“ geplant. Entsprechend wichtig ist der Fokus unserer Studie auf die Wahrnehmung von pädagogischen Fachkräften gegenüber solchen Konflikten.
Interreligiöse Konflikte zwischen Angehörigen verschiedener Religionen
Welche Arten von Konflikten nehmen diese Fachkräfte denn Ihrer Studie zufolge wahr? Professorin Stein: In dieser deutschlandweiten, allerdings nicht repräsentativen Studie geben gut ein Drittel (34,1 Prozent) der Befragten an, religiös begründete Konflikte in der Schule wahrzunehmen. Diese werden insbesondere als interreligiöse Konflikte zwischen Angehörigen verschiedener Religionen, als intrareligiöse Konflikte, etwa zwischen Sunniten und Schiiten, Konflikte um Religionsauslegung sowie um Gleichberechtigung von Religionen eingeordnet. 36,6 Prozent geben an, im Schulalltag Herausforderungen im Kontext religiöser Praktiken zu begegnen.
Diese beziehen sich insbesondere auf religiöse Feste und Feiertage, religiös begründetes Fasten oder aber im Zusammenhang mit religiösen Aspekten begründetes Versäumen von Unterricht und Klassenfahrten. Überdies geben 26 Prozent der Befragten an, Erfahrungen mit islamistischen Einstellungen und Aussagen zu haben. Es ist zu berücksichtigen, dass dies keine Rückschlüsse auf tatsächliche Herausforderungen und Radikalisierungstendenzen zulässt, sondern die Wahrnehmungen und Deutungen der Pädagogen erfasst werden.
Professor Kart: Auffällig ist außerdem, dass muslimische Lehrkräfte signifikant häufiger solche Konflikte wahrnehmen. Sie sind möglicherweise einerseits stärker für die Themen sensibilisiert. Andererseits werden sie mutmaßlich bei herausfordernden Vorfällen häufig als Beratende hinzugezogen. Gleiches gilt zum Beispiel für Schulsozialarbeitende.
Vorschnelle Urteile stören das Miteinander und die Integration innerhalb der Schüler
Sie haben also nicht die Konflikte selbst untersucht, sondern die Perspektive der Fachkräfte. Welche Folgen kann deren Wahrnehmung in ungünstigen Fällen an Schulen haben? Professor Kart: Die mutmaßliche Tendenz zur einseitigen Wahrnehmung und die daraus resultierenden vorschnellen Urteile können zu einer ungerechten Stigmatisierung muslimischer Schüler führen. Solche Stigmatisierungen wirken sich nicht nur negativ auf das Selbstverständnis und die Identität der betroffenen Jugendlichen aus, sondern können auch das Miteinander und die Integration innerhalb der Schülergemeinschaft stören. Dies steht im Widerspruch zum eigentlichen Bildungsauftrag, der eine inklusive und respektvolle Lernumgebung anstrebt.
Verunsicherungen und Konflikte müssen ernst genommen werden
Gibt es Empfehlungen, die Sie auf Grundlage Ihrer bisherigen Erkenntnisse dazu geben können, wie man die Situation für Fachkräfte und Lernende an Schulen verbessern kann? Professorin Stein: Die Ergebnisse unserer Studie zeigen, dass pädagogische Fachkräfte an Schulen vielfältige Konflikte mit Religionsbezug wahrnehmen. Die Schilderungen zu den Konflikten weisen auf starke Verunsicherungen bezüglich des Themas hin. Diese Verunsicherungen und die Konflikte, denen die Pädagogen im Schulalltag begegnen, müssen ernst genommen werden und Betroffene müssten mehr Unterstützung bei deren Bewältigung erhalten.
Ein sehr hoher Prozentsatz der Befragten gibt an, dass ein Weiterbildungsbedarf besteht und dass man sich Hilfe und Unterstützung bei Konflikten wünscht. Insgesamt muss noch stärker kommuniziert werden, dass es spezialisierte Fachberatungsstellen auch für Lehrkräfte gibt, wo man sich etwa bei religiösen Konflikten oder Verdachtsfällen von Radikalisierung Hilfe und Beratung holen kann, etwa „beRATen Niedersachsen“ in Hannover.
Auch existiert sehr gutes Material, das Lehrkräften und pädagogischen Mitarbeitenden an Schulen hilft, mit Konflikten und Herausforderungen im Kontext der Religionen umzugehen, etwa das Material ‚The kids are alright‘ von UFUQ.
Professor Kart: Es ist wichtig, zielgerichtete Bildungsangebote für pädagogische Fachkräfte zu entwickeln, die die Kompetenzen im Umgang mit Vielfalt, aber auch mit Konflikten und Radikalisierung und Fundamentalismen bei Schülern und Eltern stärken. Zudem ist entscheidend, dass bereits in der Ausbildung von Lehrkräften und Schulsozialarbeitern ein starker Schwerpunkt auf Themen wie interkulturelle Kompetenz, religiöse Vielfalt und Anti-Diskriminierung sowie auf die Prävention von Radikalisierung gelegt wird.
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