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Diplomaten beweglich wie Wanderdünen

Kein Wasser, kein Schutzabstand und keine Bleibe für die Nacht: In Marrakesch hat die Rückholaktion des Auswärtigen Amtes deutsche Urlauber an ihre Belastungsgrenze geführt.

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Abstand halten Fehlanzeige: 1300 deutsche Urlauber waren am Flughafen von Marrakesch gestrandet.	Foto: uk

Abstand halten Fehlanzeige: 1300 deutsche Urlauber waren am Flughafen von Marrakesch gestrandet. Foto: uk

Sechseinhalb Stunden lang drängten sich rund 1300 deutsche Urlauber in der völlig überfüllten Wartehalle des Flughafens dicht aneinander, trotz aller Corona-Warnungen. Ein Mitarbeiter der deutschen Botschaft kletterte auf einen Stuhl, nahm seinen Mundschutz ab und schrie in die Menge. „Wir haben von vorne nach hinten weitergegeben, was der gesagt hat“, berichtet Uwe K. (68) aus Cloppenburg von den chaotischen Szenen, die sich am Donnerstag und Freitag in Marrakesch abgespielt haben.

K. ist am Samstagmorgen erschöpft von einer Odyssee heimgekehrt, die mit der Ausreiseanweisung des nordafrikanischen Staates begann und das Auswärtige Amt offensichtlich überrumpelt hat. In der Menge brachen Reisende ohnmächtig zusammen. „Nirgendwo gab es einen Schluck Wasser“, sagt der Rentner: „Wir trauten uns nicht weg, weil wir nicht wussten, wie und wann es weitergeht.“

Draußen vor der Tür exerzierte die amerikanische Botschaft vor, wie es hätte funktionieren können. „Die hatten auf dem Vorplatz offene Zelte aufgestellt und mit Flatterband die Warteschlangen markiert“, erzählt der erfahrene Nordafrika-Reisende. Konsularmitarbeiter lenkten die Masse per Ansagen über Megaphon in geordnete Bahnen und erklärten die Situation. „Auf den Tischen standen überall Desinfektionsmittel“, erzählt K.

Seine kleine private Reisegruppe war nachts vom Rand der Sahara aufgebrochen, als die Meldung von der Zwangsabreise eintraf. „Wir hatten alles vorbereitet für einen Wüstentrip“, berichtet der Cloppenburger: „Die Kamele standen bereit, die Zelte waren gepackt.“ Stattdessen fuhr die vierköpfige Gruppe über Nacht zurück nach Marrakesch, wo sie ab 9 Uhr in der Wartehalle ausharrte.

Erst um 15.30 Uhr sickerte durch, dass nur zwei Maschinen mit insgesamt 400 Menschen an diesem Tag starten würden. Alle anderen überließ die Botschaft über Nacht sich selbst. „Wir durften nicht im Fughafen übernachten“, erzählt Uwe K. Der gute Rat der Diplomaten: Jeder könne sich per booking.com ein Quartier buchen. Freie Hotelzimmer gebe es genug. „Leider hatten sämtliche Hotels zu diesem Zeitpunkt längst geschlossen“, unterstreicht K.: „Die Leute wussten überhaupt nicht, wohin.“

Nur weil der Cloppenburger auf seinen Reisen über Jahrzehnte Freunde in Marrakesch gewonnen hat, kam die Gruppe bei einer einheimischen Familie unter. „Die haben sich gefreut, dass sie Gastgeber sein durften“, berichtet K. verwundert: „Diese Herzlichkeit war riesig.“ Auf der Straße zu dem Haus erlebten die Deutschen das Befremden: Einheimische junge Männer riefen ihnen „Corona, Corona!“ hinterher. K. rettete die unbehagliche Situation mit einem Scherz in Englisch: „Wir sind die überall beliebten deutschen Urlauber. Für einen Euro könnt‘ ihr ein Foto von uns machen.“ Die Männer lachten und verabschiedeten sich mit dem „Corona-Gruß“, Fuß an Fuß.

Am Morgen hatte die Botschaft zumindest ein Megaphon besorgt und über Nacht sämtliche Urlauber in einer alphabetischen Liste erfasst. „Die mussten das über Nacht alles per Hand erledigen, weil der Server zusammengebrochen ist, auf dem sich alle Deutschen anmelden sollten“, schildert K. die Lage.

Offenbar war das Auswärtige Amt selbst mit dem digitalen Andrang überfordert. „Wir hatten das etwa 20-mal versucht“, berichtet der Cloppenburger. Schließlich schrieb er eine E-Mail an die Botschaft in Rabat, die ihre Daten weiterleitete. Trotzdem mussten Mitarbeiter der Botschaft auf dem Fußboden des Flughafens arbeiten.

Immerhin: In 50er-Gruppen wurden die Deutschen zum Check-in aufgerufen. „Ich war Nr. 243“, sagt der 68-Jährige. „So konnten wir endlich abschätzen, wann wir dran sind und noch einmal an die Luft.“ Draußen beoachteten die Urlauber die reibungslose Organisation der US-Behörden.

Am Samstagmorgen um 4 Uhr traf die Reisegruppe um Uwe K. per Bahn in Düsseldorf ein, wo ihr Auto stand. Am Sonntag erholte sich der Cloppenburger auf dem Sofa von den Strapazen. Seine Bilanz: „Egal ob Organisation, EDV oder Infektionsschutz - das Auswärtige Amt hat seinen Job miserabel gemacht.“ Nur zwei persönliche Pluspunkte fallen dem 68-Jährigen im Nachhinein ein: Wegen der Komplettauslastung der Maschinen ergatterte er einen Platz in der bequemen Business-Class. Und. Die 1300 wartenden Urlauber sind mit Anschrift erfasst. „Falls einer von uns in Quarantäne gehen muss, haben die zumindest alle Kontaktpersonen parat“, spottet K. sarkastisch.

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