Kurz vor dem vereinbarten Interviewtermin meldet sich Timo Feldhaus aus seiner Berliner Wohnung. Er entschuldigt sich, er habe Corona und müsse leider einiges regeln. Das Gespräch findet einen Tag später telefonisch statt.
Herr Feldhaus, wie geht es Ihnen?
Ganz gut. Ich bin inzwischen wieder Corona-negativ.
Ihr Buch "Mary Shelleys Zimmer" haben Sie während der Pandemie geschrieben. Sind Sie Corona dankbar für die geschenkte Zeit?
Ich konnte mich dadurch tatsächlich gut in die Situation der historischen Figuren hineinversetzen. Auch sie befanden sich gewissermaßen im Lockdown. Mary Shelley und die englischen Dichter, um die es hauptsächlich geht, konnten wegen des schlechten Wetters der aufziehenden Klimakatastrophe nur selten nach draußen. Und Napoleon saß nach der verlorenen Schlacht bei Waterloo einsam auf einem Felsen im Südatlantik. Es war ein bisschen verrückt, als ich mich zum Schreiben zurückzog, begann plötzlich Corona und alle Menschen schienen sich mit mir gemeinsam in ihre Zimmer zu verkriechen.
Zum Hintergrund: Feldhaus schildert in seinem Buch wahre Begebenheiten. Im Jahre 1815 explodiert auf einer indonesischen Insel der Vulkan Tambora. Der heftigste Vulkanausbruch der Neuzeit bewirkt enorme Klimaveränderungen. In Europa kommt es 1816 zu einem Jahr ohne Sommer. Die 18-jährige Mary Shelley versteckt sich vor den Unwettern in Genf bei Lord Byron. Hier entwickelt das hochtalentierte Mädchen die Idee für ihren ersten Roman: die Geschichte von Frankenstein und seinem Monster. Die ZEIT lobte Feldhaus Werk als "kurzweilige und pointensichere Geschichte".
Sie sind Sachbuchautor. Ihr Buch weist aber zahlreiche romanhafte Züge auf. So beschreiben Sie in inneren Monologen, was die Protagonisten denken und wie sie fühlen. Das liest sich lebendig, aber ist es auch historisch korrekt?
Mein Buch wird dem Genre des „erzählenden Sachbuchs“ zugeordnet, das ist, anders als im englischsprachlichen Raum, in Deutschland noch nicht so verbreitet. Am bekanntesten dürfte Florian Illies "1913 Der Sommer des Jahrhunderts“ sein. Es handelt sich um eine Art Hybrid-Wesen aus Sachbuch und Roman, fast so wie das Monster in Shelleys „Frankenstein“. Die historischen Fakten sind korrekt recherchiert, das hat den größten Teil meiner Arbeit umfasst. Die innere Rede und die Dialoge beruhen zu Teilen auf Briefen Shelleys und anderer. Und natürlich habe ich mich auch strikt an die Chronologie der Ereignisse gehalten. Die Schilderungen sind also faktisch richtig, auf dieser Basis versuche ich, die Figuren zum Leben zu erwecken.
Ein einfaches Sachbuch zu schreiben, wäre Ihnen also zu langweilig?
Das nicht. Aber ich bin überzeugt: Jeder Sachbuchautor übertritt beim Schreiben Grenzen. Ich denke, es ist immer interessant, zu den Anfängen zurückzukehren. Das ist das Buch auch: eine Reise zu den Anfängen. Trotz des Wissens, das wir heute besitzen, glaube ich nicht, dass wir klüger sind, als die Menschen zurzeit Shelleys. Damals grenzte die Entdeckung der Elektrizität, die im Frankenstein-Roman eine zentrale Rolle spielt, geradezu an Zauberei. Aber obwohl wir heute über viel mehr Informationen und technische Daten verfügen, führt das nicht zu einem besseren Leben oder mehr Glück. Wir haben stattdessen das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren.
Was fasziniert sie an der Epoche, die sie beschreiben?
Die Menschen stellen sich dieselben Fragen wie wir. Nach der Aufklärung ist der Weg frei für ein neues Weltbild, die Industrialisierung beginnt, es werden Erkenntnisse gewonnen, die bis heute fortwirken. Mary Shelleys Monster kann man schon als eine Form von Künstlicher Intelligenz ansehen. Die Dichtergruppe um Lord Byron beschäftigt sich mit Themen wie Vegetarismus und freie Liebe. Sie diskutiert sogar über Tierrechte, interessieren sich für Bodybuilding. Diese jungen Romantiker stehen für die Idee des freien Individuums, das die Grenzen seiner Welt sprengt. Sie sind damit die Vorläufer der Hippie-Kultur. Ihre wichtigste Botschaft lautet: Wenn man sich nicht von der Liebe leiten lässt, ist sowieso alles verloren. Andererseits entwickelt sich etwa in Deutschland der Nationalismus, der nicht nur positive Züge trägt.
Neben Shelley und Byron tauchen auch weitere historische Größen auf. Sie müssen unglaublich viel Zeit in Bibliotheken verbracht haben.
Das stimmt. Ich hatte die Idee zu dem Buch vor 10 Jahren und seitdem immer wieder mit ihr beschäftigt. Mich hat interessiert, wie ein äußeres Ereignis, um dessen Ursache in Europa ja niemand wusste, das ganze Weltgeschehen, aber auch das künstlerische Schaffen beeinflusste. Wenn man Persönlichkeiten wie Goethe, Caspar David Friedrich und Napoleon mit aufnimmt, und herausfinden will, was sie zu dieser Zeit gemacht und gedacht haben, vergrößert das die Recherche natürlich erheblich. Als man wegen Corona keine entlegenen Orte besuchen durfte, bin ich durch Bücher gereist.
Sie gehen bundesweit auf Lesereise. Ihren Heimatort Essen haben Sie direkt nach dem Abitur verlassen. Sind Sie damals wie Mary Shelly der häuslichen Enge entflohen?
Das könnte man so sagen, ja. Aber inzwischen habe ich diese Phase längst hinter mir und komme immer wieder gern zu Besuch nach Hause zurück. Hier habe ich meine Wurzeln und ich bin meinen Eltern ewig dankbar, dass sie mich auf meinem Weg stets unterstützt haben, auch wenn nicht immer ganz klar war, was der Junge da eigentlich macht. Auch deshalb freue ich mich schon sehr auf die beiden Lesungen im November.
Zur Person und Fakten:
- Timo Feldhaus, geboren 1980, wuchs in Essen/Oldenburg auf. Nach seinem Abitur am Artland-Gymnasium Quakenbrück und dem Zivildienst in Bremen zog es ihn nach Berlin, wo er Literaturwissenschaften und Soziologie studierte und begann, für Zeitungen und Magazine zu schreiben. Feldhaus ist verheiratet und hat eine Tochter.
- Auf Einladung des Bildungswerks Essen liest Feldhaus am Mittwoch, 23. November, aus seinem Buch "Mary Shelleys Zimmer". Beginn ist um 19 Uhr im "Essener", Peterstraße 5. Karten gibt es im Vorverkauf in der Geschäftsstelle in der August-Meyer-Str. 2 sowie telefonisch unter 0 54 43 / 77 60 oder per Mail unter anmeldung@bw-essen.de.
- Am Freitag, 25. November, folgt eine weitere Lesung auf Einladung der Artland-Akademie Quakenbrück (AAQ) im Hörsaal des Christlichen Krankenhauses Quakenbrück. Beginn: 18.30 Uhr. Infos unter www.artland-akademie.de.
- Das Buch Mary Shelleys Zimmer ist im Rowohlt Verlag erschienen. Es hat 320 Seiten und kostet 26 Euro.