Oma Anna, die vierte Person von links
Kolumne: Notizen aus dem wahren Leben. Die beweisen in diesem Fall, dass der Schnee von gestern tiefe Emotionen freisetzen kann.
Andreas Kathe | 03.09.2020
Kolumne: Notizen aus dem wahren Leben. Die beweisen in diesem Fall, dass der Schnee von gestern tiefe Emotionen freisetzen kann.
Andreas Kathe | 03.09.2020
Oma Anna steht in der ersten Reihe, die vierte Person von links. Das Bild, das vor mir liegt, ist rund 100 Jahre alt. Schnee von gestern. Könnte man sagen. Und doch: Das Foto weckt Erinnerungen, erzeugt Emotionen. Die junge Frau, die ich sehe, trägt ein wallendes Kleid und gehört zu einer Laientheatertruppe, die damals in Dinklage irgendein germanisch angehauchtes Schauspiel zum Besten gab. Vielleicht waren die Nibelungen auferstanden. Die Männer auf dem Foto haben sich jedenfalls Helme mit langen Hörnern aufgesetzt. Die durchweg jungen Schauspielerinnen könnten alle die Kriemhild geben. In meinem Kopf ist Oma alt. Ich kenne sie, die vor knapp 40 Jahren starb, fast nur in schwarzem Kleid. Mag sein, dass sie es auch trug, weil ihr ältester Sohn wenige Tage vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges fiel – exakt an seinem 19. Geburtstag. Die Trauer überdauerte. Mag sein, dass Dunkel damals Mode war für ältere Frauen. Ich erinnere mich an schwarz besetzte Kirchenbänke. Sei‘s drum. Das alte Bild sagt mir, dass auch Oma jung war und Spaß am Leben hatte. Theater auf dem Dorf, das war in Zeiten ohne Streaming-Dienste, Champions-League-Übertragungen und IKEA-Einkaufserlebnistouren ein Unterhaltungs-Höhepunkt, der Platz zum Ausprobieren und Kennenlernen – vor allem auch für junge Leute. Klar, wir leben heute anders. Und doch, sind nicht die Wünsche, Hoffnungen, Zukunftsfantasien in etwa gleich? Die junge Frau vor 100 Jahren wollte genauso ein erfülltes Leben, wie die jungen Menschen heute. Eine sichere Zukunft, eine glückliche Familie, ein friedliches Miteinander. Alles Sachen, die nicht abhängig sind von der Höhe der Internet-Übertragungsraten oder der Zuverlässigkeit einer Amazon-Paketzustellung. Ein 100 Jahre altes Fotos wirkt damit irgendwie auch ganz aktuell. Im Kopf nämlich ticken wir alle gar nicht so viel anders als unsere Vorfahren. Menschen eben. Sicherlich in ihre Zeit hineingeboren, die damals noch Pferdekutschen kannte, wo heute ein Elon-Musk-Tesla gefühlt schon kurz vor dem Abheben in Richtung Weltraum steht. Macht mich das glücklicher? Nein. Was zählt, sind die positiven Begegnungen mit den Menschen, ein Lächeln der besten Ehefrau, die Freude über das Treffen mit den Kindern, den Verwandten, den Freunden und Nachbarn. Was zählt, das sind die schönen Erlebnisse, die in Erinnerung bleiben. Meinetwegen auch, wenn dafür wieder Siegfried und Kriemhild auf die Bühne klettern müssen.„Die junge Frau vor 100 Jahren wollte genauso ein erfülltes Leben, wie die jungen Menschen heute.“Andreas Kathe
Es geht um die Erinnerungen, die Erlebnisse
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