Im Ukraine-Krieg sind wir die Guten. Na klar. Wir lassen es nicht zu, dass ein Land einem anderen brutal seinen Willen aufzwingt. Dass eine Diktatur eine Demokratie angreift mit dem Ziel, die frei gewählte Regierung zu stürzen. Dass Menschenrechtsverletzungen ungesühnt bleiben. Demokraten helfen einander.
Vor 50 Jahren war das nicht so. Der damalige Putsch in Chile ist der dunkle, genauer gesagt der blutrote Fleck auf der Weste der westlichen demokratischen Nationen, inklusive Deutschlands. Eine demokratisch gewählte, sozialistische Regierung wurde mit Gewalt von den Militärs beseitigt, Präsident Allende in seinem Amtssitz bombardiert, bis er den Freitod wählte. Hunderttausende wurden eingekerkert, viele gefoltert, rund 4000 willkürlich erschossen. Ähnlich viele übrigens, wie die Russen bisher in den von ihnen besetzten Gebieten der Ukraine außerhalb von Kriegshandlungen umgebracht haben.
"Der CSU-Vorsitzende Franz-Josef Strauß jubelte und ließ sich von Schlächter Pinochet eine Ehrendoktorwürde verleihen."
Der US-Geheimdienst CIA hatte den Putsch finanziert und organisiert. Der damalige CDU-Generalsekretär Bruno Heck besichtigte auf dem Höhepunkt der Internierungen das Nationalstadion, das Zentrum der Gewalt, und sagte: „Das Leben im Stadion ist bei sonnigem Wetter recht angenehm.“ Der CSU-Vorsitzende Franz-Josef Strauß jubelte, dass das Wort Ordnung in Chile wieder einen „süßen Klang“ habe und ließ sich von Schlächter Pinochet eine Ehrendoktorwürde verleihen.
Vergessen? Nichts ist vergessen, sicher nicht bei den Hinterbliebenen der Opfer und auch nicht bei den Tausenden, die flüchten mussten. Bis heute leidet Chile unter dieser Gewalterfahrung.
Natürlich war es eine andere Zeit. Der Westen wollte und konnte nicht zulassen, dass nach Kuba ein weiteres amerikanisches Land unter sowjetischen Einfluss kam. Aber heiligt der Zweck wirklich alle Mittel? Auch heute noch?
Mindestens zwei bleibende Fragen hat dieser brutale Putsch aufgeworfen. Zum einem, ob manche angeblichen Demokraten die Demokratie nur so lange akzeptieren, wie sie ihr nutzt oder wenigstens nicht in die Quere kommt. Viktor Orban, Benjamin Netanjahu und Donald Trump zeigen, dass diese Frage weiter sehr aktuell ist.
Und zweitens, ob wenigstens jetzt, 50 Jahre danach, Menschenrechtsverletzungen für den Westen eine rote Linie in den Beziehungen zu anderen Staaten darstellen. Null Toleranz für Schlächter. Jeder kann jedoch täglich in den Nachrichten lesen, wie es darum bestellt ist – etwa gegenüber China oder Saudi-Arabien. So moralisch überlegen, wie er tut, ist der Westen auch heute nicht.
Zur Person:
- Der Lohner Werner Kolhoff, Jahrgang 1956, hat für den Berliner Tagesspiegel und die Berliner Zeitung gearbeitet.
- Er war Sprecher des Berliner Senats und leitete ein Korrespondentenbüro. Heute ist er in der Hauptstadt als politischer Kolumnist tätig.
- Den Autor erreichen Sie unter redaktion@om-medien.de.