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Das Solange-Phänomen und der Stillstand

Die Weltklimakonferenz hat einmal mehr gezeigt, dass Politiker lieber Bedingungen stellen, als selbst voranzugehen. Mutige Menschen, die vorangehen wollen, werden dagegen diskreditiert.

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Kennen Sie das Solange-Phänomen? Sicherlich, wenn Sie Kinder haben. "Solange mein kleiner Bruder sein Zimmer nicht aufräumt, schaffe ich bei mir auch keine Ordnung." Oder aus der Firma: "Solange der Willi mehr Geld verdient als ich, mache ich nur noch Dienst nach Vorschrift."

Wer die Politik in Deutschland beobachtet, stößt überall auf Solange-Phänomene: "Solange das nicht europaweit geregelt wird, sollten wir keine Grenzwerte verschärfen." "Solange Klimaaktivstinnen und Aktivisten mit Smartphones von Apple telefonieren und Cola aus Dosen trinken, nehmen wir ihnen ihre Ängste vor der Zukunft auch nicht ab." "Solange die Chinesen so viel Treibhausgas ausstoßen, brauchen wir im kleinen Deutschland mit dem Reduzieren von CO₂ auch nicht anzufangen."  Dieses Solange-Denken ist überall und setzt sich von oben nach unten fort, von der Regierung über die Opposition, in Interessenverbänden ist es besonders ausgeprägt, bis hin zu den Ratsfrauen und Ratsherren in den Städten und Gemeinden.   

Baerbock sah sich hoffnungslos umgeben von "Solange-Sagern"

Das Schlimme an dem Solange-Phänomen ist: Es dient als Ausrede für alles, dafür, einfach nichts zu machen; so weiterzuwurschteln wie immer, anstatt etwas anzupacken, neu zu denken und vorausschauend zu handeln. Wer sich als Erstes bewegt, verliert.

So war es jüngst zu beobachten beim Weltklimagipfel, auf dem Deutschland immerhin mal vorangegangen ist. Außenministerin Annalena Baerbock sah sich hoffnungslos umgeben von "Solange-Sagern". "Solange Deutschland Kohlekraftwerke reaktiviert, aber saubere Atommeiler abschaltet, solange lassen wir uns auf keine Reduktionsziele ein." Die Welt steht klimatisch gesehen am Abgrund, und Politiker aus aller Welt machen das Konditionale zu ihrer Verhandlungsstrategie und diskreditieren damit nicht nur die "Länder der Willigen", sondern samt und sonders gleich die weltweite wissenschaftliche Klimaforschung mit.  

Natürlich sind Bedenken per se nicht verkehrt. Wenn sie konstruktiv vorgebracht werden, sind sie sogar äußerst nützlich. Aber die Solange-Strategie ist destruktiv. Sie zementiert das Alte und verhindert Fortschritt. Politiker, Funktionäre, wer auch immer einen Satz mit "Solange..." beginnt, hat in Wahrheit keine guten Argumente mehr.

"Solange alle in ihren Solange-Reden darauf warten, dass der andere den ersten Schritt tut, solange werden wir nichts verbessern."Stefan Freiwald

Umso erstaunlicher, dass die Strategie trotzdem funktioniert. Ohne das "Solange" hätte es eine Fußball-Weltmeisterschaft in Katar vermutlich nie gegeben. Denn dann hätte der erste nationale Fußballverband schon vor Jahren gesagt: "Bei einer nachweislich gekauften WM in einem die Menschenrechte verachtenden Emirat werden wir nicht mitmachen. Uns ist auch egal, ob unser Nachbarland trotzdem dabei ist, aber wir können es mit unseren Wertevorstellungen von einer offenen, diversen Gesellschaft nicht vereinbaren. Punkt."

Vielleicht finden sich bei einem solchen Szenario dann andere, die sagen: "So viel Courage finden wir gut. Wir machen bei einem Boykott mit." Das wiederum könnte weitere Fußballverbände zum Umdenken bewegen und vielleicht sogar einige Weltstars inspirieren, denen ein Statement bislang nicht mal eine Gelbe Karte wert ist. Wie lange würde sich Fifa-Präsident Infantino dann wohl noch im Amt halten? Es sei denn, er würde irgendwann einsehen, dass es besser ist, sich an bestimmte Moralvorstellungen und Gesetze zu halten, als diese als scheinheilig zu kritisieren. Lieber ein bisschen scheinheilig, als gar keine Moral, möchte man entgegnen.  

Sie haben Recht, wenn Sie solche Gedanken als naiv bezeichnen. Leider. Aber: Solange alle in ihren Solange-Reden darauf warten, dass der andere den ersten Schritt tut, solange werden wir nichts verbessern. Wir brauchen mehr Menschen, die ihre Sätze nicht mit "Solange..." beginnen, sondern mit "Wir machen...". 

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