Das Dilemma zwischen Dynamik und Sorgfalt beim EU-Beitritt der Ukraine
Es gibt gute Gründe, das 44-Millionen-Einwohner Land in die Europäische Gemeinschaft zügig aufzunehmen – wenn die Grundvoraussetzungen passen.
Stefan Freiwald | 04.02.2023
Es gibt gute Gründe, das 44-Millionen-Einwohner Land in die Europäische Gemeinschaft zügig aufzunehmen – wenn die Grundvoraussetzungen passen.
Stefan Freiwald | 04.02.2023
Die Ukraine stellt die Europäische Union mit ihrem energischen Beitrittsgesuch vor ein Dilemma. Einerseits muss sie auf die Einhaltung von Rechtsstaatsprinzipien und Korruptionsbekämpfung jedes Beitrittskandidaten pochen. Andererseits bietet ein baldiger Beitritt auch etliche Chancen. Die Kommission in Brüssel ist völlig zu Recht mit jeder Erweiterung immer misstrauischer geworden, was weitere Kandidaten betrifft. Mehr als 10 Jahre warten Staaten wie Montenegro, Moldau und Albanien schon. Denn je größer die EU wird, desto handlungsunfähiger wird sie mit ihrem Einstimmigkeitsprinzip in den wichtigen Fragen. In der Vergangenheit haben besonders Ungarn und Polen vom Veto regen Gebrauch gemacht. Beide haben gerne Milliardenbeihilfen für Infrastruktur und Landwirtschaft dankbar angenommen, Forderungen aus Brüssel nach Wahrung der Unabhängigkeit der Justiz – eins der wichtigsten Prinzipien des Rechtsstaates – aber brüskiert zurückgewiesen. Welch Ironie, dass ausgerechnet Polen jetzt am lautesten die rasche Aufnahme der Ukraine in den Staatenbund fordert. Wobei das polnische Interesse aus sicherheitspolitischen Erwägungen heraus allzu verständlich ist. Nur ist die EU eben kein Sicherheitsbündnis. Brüssel täte also gut daran, zwar das Aufnahmeverfahren zügig durchzuziehen, aber gleichzeitig nicht seine Prinzipien preiszugeben. Die Forderungen des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, noch in diesem Jahr Beitrittsverhandlungen aufzunehmen, sind verständlich und würden dem Land weitere Moral im Kampf gegen russischen Aggressor bieten. Doch eine zu schnelle Annäherung könnte die anderen erwähnten Beitrittskandidaten brüskieren und zudem das europäische Projekt gefährden. Ein Beitritt, solange der Krieg tobt und Russland Teile der Ukraine besetzt hält, verbietet sich von selbst. Denn sonst würde die EU mit einem Schlag zum Kriegsteilnehmer mit möglicherweise fatalen Folgen für den gesamten Kontinent. Zudem bedarf es weiterhin dringender Reformen in den europäischen Entscheidungsprozessen, sollte ein Land von der Größe der Ukraine mit rund 44 Millionen Einwohnern Mitglied werden. Reformen hat Brüssel bereits in der Vergangenheit versäumt. Das hat dazu geführt, dass sich die Union in wichtigen Fragen wie nach einer einheitlichen, für Migranten und Mitgliedsstaaten gerechten und sozialen Flüchtlingspolitik oder den immer wieder im Ansatz steckenbleibenden Idee von einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik nicht einig werden konnte. Und auch die Ukraine muss noch etliche Hausaufgaben erledigen, allen voran was die Bekämpfung der Korruption angeht. Nicht ohne Grund hat Selenskyj kürzlich öffentlichkeitswirksam fünf Gouverneure und vier Vize-Minister gefeuert, die alle unter Korruptionsverdacht stehen. Damit hat er die Ernsthaftigkeit der ukrainischen Bemühungen unterstrichen. Insofern kann eine Beitrittsperspektive allein schon viel Gutes bewirken. Zudem wäre ein EU-Beitritt der Ukraine nicht nur eine große Chance für das Land selbst, sondern auch für die gesamte Europäische Union. Europa ist von Anfang an ein großes visionäres Friedensprojekt. Und was braucht dieser Kontinent gerade dringender als Frieden? Damit würde auch die wirtschaftliche Prosperität gesichert bleiben. Freier Handel, neue Absatzmärkte und europäische Standards für ökonomisches und ökologisches Wirtschaften würden die Ukraine nach vorne bringen und dem restlichen Kontinent einen großen neuen Absatzmarkt bescheren. Und es wäre ein Fingerzeig an die rechten Regierungen in Polen und Ungarn, nationale Interessen zurückzustellen. Es gibt nur gute Gründe für Brüssel, im Bezug auf einen Beitritt des Landes dynamisch aber sorgfältig zu agieren."Ein Beitritt, solange der Krieg tobt und Russland Teile der Ukraine besetzt hält, verbietet sich von selbst."Stefan Freiwald
Dynamisch, aber sorgfältig reagieren
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