Zu früh oder fashionably late – ist doch eh egal
Kolumne: Die Generation Z zeigt's Ihnen – Jeder kennt das Sprichwort mit dem frühen Vogel und dem Wurm. Aber was motiviert Menschen überhaupt, pünktlich zu sein?
Ella Wenzel | 25.07.2022
Kolumne: Die Generation Z zeigt's Ihnen – Jeder kennt das Sprichwort mit dem frühen Vogel und dem Wurm. Aber was motiviert Menschen überhaupt, pünktlich zu sein?
Ella Wenzel | 25.07.2022
Der frühe Vogel fängt den Wurm, später ist oft zu spät und natürlich: Der beste Beweis einer guten Erziehung ist die Pünktlichkeit. Es gibt kaum eine Tugend, die uns deutschen Kartoffeln so zusagt, wie die Pünktlichkeit. Sei es bei der Arbeit oder in der Freizeit. Der Satz „Guck mal aufs Zeitglas“ aus meiner Fußballzeit hat sich in mein Gehirn gebrannt. Aber woher kommt das? Denn, wenn ich mich mal in meinem Freundeskreis umschaue, ist Pünktlichkeit nicht das Wort, mit dem ich die Situation beschreiben könnte. Nachrichten wie „Ich fahre sofort los“ lese ich mittlerweile mit genauso viel Vertrauen wie den Fahrplan der Deutschen Bahn – und dabei würde ich mich nicht mehr als pünktlich bezeichnen. Mittlerweile lebe ich nach dem Motto Bob Hopes: „Pünktlichkeit ist die Kunst, richtig abzuschätzen, um wie viel der andere sich verspäten wird.“ Das war aber nicht immer so. Mein früheres Ich – der frühe Vogel – war fast überpünktlich. Das grenzte fast an das Verhalten der Musik-Freaks, die 8 Stunden auf der Straße campen, um bei Konzerten vorne stehen zu können. Ich kann mich nämlich an mehrere Termine erinnern, bei denen ich 1 Stunde zu früh da war, weil ich in meinem Stress, pünktlich zu sein, die Uhr falsch gelesen habe. Das hat auch seine Vorteile: So habe ich zum Beispiel meinen besten Freund kennengelernt. Eine Stunde zu früh stand ich vor der Tür seiner Nachbarin, denn sie wollte mich zur Theater-Probe mitnehmen. Nur halt eine Stunde später. Also suchte ich nach einem Zeitvertrieb und dachte mir: „Mit dem da vorne hab ich doch schon mal in der Schule geredet.“ Der Funken der Freundschaft sprang sofort über: Wir verbrachten eine Stunde in angespannter Stille, während er an einer Präsentation arbeitete und ich alles las, was so in meinem Umkreis rumlag. Und das hätte ich verpasst, wenn ich nicht sehr pünktlich gewesen wär'! Also, wenn das nicht Motivation genug ist. Heutzutage sieht das aber anders aus. Die Zeit Fremder schätze ich natürlich. Aber sonst? Was ich mit meiner Zeit tue, ist doch mir überlassen. Und eine ausgewählte Menge an Freunden soll erst mal in den Spiegel gucken. Der frühe Vogel fängt zwar den Wurm, aber der frisst doch wohl nicht die ganze Wiese leer. Dann mache ich mein Frühstück halt zum Brunch und esse die anderen Würmer. Und wieso sollte ich 8 Stunden zelten, um bei Konzerten an der Barrikade zu stehen? Nach vorne kommt man genauso gut mit einem freundlichen "Entschuldigung" – unterstrichen von Ellenbogeneinsatz. Außerdem: Wer will vorne stehen? Wenn ich mich wie eine Zahnpastatube fühlen will, lass' ich mich für weniger Geld ausquetschen. Die meisten Menschen heucheln ihre Pünktlichkeit eh vor. Statt des frühen Vogels sollte das bekanntere Stichwort sein: „Wer einen großen Wert auf Pünktlichkeit legt, muss Sinn für das Alleinsein haben.“ Ich habe meine Rechtfertigung schon vor langer Zeit in einem Oscar-Wilde-Buch gefunden: Ich bin nicht zu spät, ich bin fashionably late."Der frühe Vogel fängt zwar den Wurm, aber der frisst doch wohl nicht die ganze Wiese leer."Ella Wenzel
Die meisten Menschen heucheln ihre Pünktlichkeit vor
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