Regenrallye durchs Dorf
Kolumne: Notizen aus dem wahren Leben – Der Besuch einer Beerdigung kann bei Regen durchaus schwierig werden. Eine 96-Jährige kann das aber nicht erschüttern.
Antonius Schröer | 25.05.2023
Kolumne: Notizen aus dem wahren Leben – Der Besuch einer Beerdigung kann bei Regen durchaus schwierig werden. Eine 96-Jährige kann das aber nicht erschüttern.
Antonius Schröer | 25.05.2023
„Bleibt es trocken?“, diese Frage beschäftigte meine Mutter und meine Tante seit Tagen vor einer großen Beerdigung in der Nachbarschaft. Auch wenn meine „Mädels“ es nicht mehr direkt auf den Friedhof schaffen, so muss man ja doch in die Kirche kommen mit Stock und Elektromobil und dann auch von der Kirche zum Kaffee. „Kriegen wir hin“, protzte ich wie ein kleiner Wettergott und studierte stündlich alle Wetterapps der Welt. Die Beerdigung mit großem Besuch, voller Kirche, einfühlsamer Predigt inklusive der kompletten Blaskapelle verlief trocken und wir tuckelten die 500 Meter zum Kaffee. Ein ganzer Ort nahm Anteil, eines der Dinge, um die uns viele Großstädter ihr Leben lang beneiden werden. Professionell schenkte die Nachbarschaft den Kaffee ein, der Butterkuchen schmeckte genauso gut wie die Schnittchen und das frische Mett mit ordentlich Zwiebeln ging schneller vom Teller als der goldige Käse. Frisch gestärkt und mit einigen Neuigkeiten versorgt, bereitete ich den Heimweg vor. Das Regengebiet auf dem Handy kam bedrohlich nahe, nur jetzt einfach aufspringen und noch schnell nach Hause sprinten, dafür hatte ich zu viele weise Lebensjahre in meiner Begleitung. Mantel an, Schal richten, Stock suchen, noch einen kleinen Schnack, dat düert. Und so zog das erste richtige Sommergewitter des Jahres mit pechschwarzen Wolken am Himmel heran, Oma schnappte ihren Schirm und marschierte los, da half kein Rufen mehr, noch hatte sie die Chance, halbwegs trocken das Wohnzimmer zu erreichen. Gedanklich stellte ich mich auf weitere unterhaltsame 30 Minuten in der Kneipe mit der Tante ein, Butterkuchen war ja noch da und ohne Schirm jetzt mit dem Elektromobil, das schien unmöglich. Doch denkste – mit all ihrer 96-jährigen Lebensroutine zauberte sie aus dem Ärmel eine museumsreife Regenhaube mit Bändchen unterm Kinn hervor, hatte sie blitzschnell verknotet, drückte mir den Stock in die Hand, schmiss sich in den Sitz und brauste ab in die pechschwarze Regenwand. Was blieb mir anderes übrig, als hinterher zu sprinten, während die ersten Gullys überschwappten, ich durch meine Brille nur noch die nächste Pfütze erahnen konnte und die Tante richtig Gas gab. Nach 100 Metern waren wir wieder auf Augenhöhe. „Junge, geh wieder rein, du erkältest dich, ich komm schon allein nach Haus“, hörte ich die Regenhaube schimpfen. Meine graue Beerdigungshose klebte an den Beinen, die Schuhe waren längst vollgelaufen. Tante Lucie jetzt allein fahren zu lassen – ich sah sie schon in der nächsten Überschwemmung festsitzen – mit Motorschaden. Wer weiß schon, ob so ein Elektromobil einen wahren Monsun aushält. Die möglichen Bordsteinabsenkungen, die meine Tante normalerweise millimetergenau im Ort kennt, glichen kleinen Flüssen, sie gab trotzdem Gas. Ich in großen Sprüngen nebenher – irgendwann war jede Pfütze egal – mein Gott, wo mott dat utseihn häbben. Wir erreichten pitschnass das Ziel, trotz 95-maliger „Hau ab – du wirst nass“-Rufe unter der Regenhaube. Aber die Haare meiner Tante waren wunderbar trocken, vielleicht sollte ich mir auch so eine Haube zulegen mit Bändchen unten dran – nur für den Notfall, wenn es keiner sieht."Mit all ihrer 96-jährigen Lebensroutine zauberte sie aus dem Ärmel eine museumsreife Regenhaube“Antonius Schröer
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