Frei heraus: Nach den Enthüllungen des Münchner Missbrauchsgutachtens sollte Kardinal Reinhard Marx dem Papst erneut seinen Rücktritt als Erzbischof von München und Freising anbieten. Auch sollte Marx eine erneute Ablehnung nicht noch einmal akzeptieren. Dass ein Bischof Verantwortung übernimmt, ist überfällig und mehr als eine symbolische Geste. Es wäre endlich ein glaubwürdiges Eingeständnis persönlichen und systemischen Versagens. Es wäre ein Hoffnungszeichen, dass sich Kirche in Deutschland doch bewegt.
Ein Rücktritt brächte auch andere Kirchenfürsten in Zugzwang, die bisher weit weniger zur Aufklärung beigetragen haben als der Reformer Marx. Die Lüge muss aus der Welt, dass Bischöfe auf ihrem Karriereweg in heutige Ämter gegenüber Missbrauchsopfern stets nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt hätten.
Die Mitwisserschaft, Mittäterschaft und Gleichgültigkeit in den höchsten Kreisen des Klerus zeigt sich wie in einem Brennglas in den beschämenden Einlassungen Benedikts XVI. zu den Untersuchungen in München. Zwar ist Joseph Ratzinger in seinem Pontifikat unzweifelhaft wichtige Schritte im Kampf gegen sexuellen Missbrauch gegangen, aber persönliche Schuld sieht er nicht. Dabei hat der emeritierte Papst von 1977 bis 1982 als Erzbischof von München Missbrauchsfälle nachweislich mit den gleichen spitzen Fingern angefasst wie alle Verantwortlichen in Köln, Aachen, Berlin oder sonstwo. Für die Täter wurde getan, was ging, für die Opfer nichts. Der Begriff der Doppelmoral beschreibt das Versagen nicht im Ansatz.
"Die katholische Kirche steht in Deutschland am Abgrund. Das Vertrauen schwindet wie Eis in der Sonne."Ulrich Suffner
Das Gutachten bestätigt erneut die Wahrheit, dass zu einer erfolgreichen Aufarbeitung nicht nur die Bestrafung von Tätern und die Wiedergutmachung gegenüber Opfern ausreicht. Der massenhafte Missbrauch in den vergangenen Jahrzehnten ist ein strukturelles Problem der Kirche. Sie muss ihre absolutistische Verfassung verändern. So lange die klerikale Allmacht nicht durch unabhängige Kontrolle eingegrenzt wird, kann Gleiches wieder passieren.
Reformen im System aber wird es in Rom nicht geben. Stattdessen verteilt Papst Franziskus die üblichen Beruhigungspillen an die Gläubigen: Künftig werde gegenüber Tätern "mit besonderer Aufmerksamkeit und Strenge die vorgesehene kanonische Gesetzgebung" angewandt. Ja, ja.
Auch wer es noch immer gut mit der Sache Jesu meint, muss zu der Einsicht kommen, dass die Institution Kirche in Deutschland die Aufarbeitung des systemisch bedingten Missbrauchs nicht aus eigener Kraft schaffen wird. Die Anwälte des demokratischen Staates sollten deshalb den Bischöfen und ihren Behörden schnellstmöglich genauer auf die Finger sehen. Auch eine Wahrheitskommission des Bundestages kann mehr Licht ins Dunkle bringen.
Die katholische Kirche steht in Deutschland am Abgrund. Das Vertrauen schwindet wie Eis in der Sonne. Um zu retten, was zu retten ist, reicht es nicht, dass der ehemalige Papst Benedikt, wie sein Sekretär verlauten ließ, die Opfer sexueller Gewalt in seine Gebete einschließt.