Blicke schweifen lassen war gestern – ich lasse jetzt gleiten!
Meine Woche: Irgendwann muss man den Tatsachen im wahrsten Sinne des Wortes ins Auge blicken, nämlich dann, wenn einen die Sehkraft im Stich lässt.
Sonja Gruhn | 19.02.2023
Meine Woche: Irgendwann muss man den Tatsachen im wahrsten Sinne des Wortes ins Auge blicken, nämlich dann, wenn einen die Sehkraft im Stich lässt.
Sonja Gruhn | 19.02.2023
Vielleicht kennen Sie das: Auf einmal sind die Arme zu kurz, um noch ein Schriftstück oder etwas auf einer Verpackung lesen zu können. Dabei konnte ich der Alterskurzsichtigkeit bis vor Kurzem mit diesem Trick noch ein Schnippchen schlagen. In der Ferne sehe ich schon lange nicht mehr scharf, sodass ich nicht immer ganz sicher bin, wen ich da gerade auf der anderen Straßenseite zurückgrüße. Allerdings beschleicht mich hin und wieder das Gefühl, dass es dem Zurückgegrüßten zuvor ebenso erging. Allein die Vorstellung, ständig eine Brille tragen zu müssen, war für mich lange keine Option. Die Rollatoren für die Augen empfand ich stets als störend. Sie entwickeln ein Eigenleben, indem sie sich stets auf die Nasenspitze zubewegen, und können obendrein beschlagen. Nun ja, etwas nicht lesen zu können, ist ebenfalls nicht von Vorteil. Also rüstete ich auf und deponierte in jedem Raum – inklusive Waschküche – mindestens eine Lesebrille. Ja, auch im Badezimmer. Denn die Buchstaben auf manchen Pflegeprodukten sind so unverschämt klein, dass sich die Vermutung aufdrängt, deren Hersteller machen mit der Brillen-Branche gemeinsame Sache. Der Plan ging auf, leider nur temporär. Die Maßnahme verschaffte immerhin einen Aufschub. Dann kam der Tag, an dem ich mich über die Inhaltsstoffe von Katzenfutter anhand der Beschreibung auf der Dose informieren wollte. In dem Geschäft gab es keine Lupen an den Einkaufswagen. Diese Helferlein nutzte ich schon mal gerne, wenn die Lesebrille zuhause liegengeblieben war. So musste ich eine Verkäuferin um Hilfe bitten. Als ich zu allem Überfluss mit meiner Brille fürs Auto den Tacho nicht mehr richtig erkennen konnte, gab ich mich geschlagen und vereinbarte einen Termin beim Optiker. Unglaublich, wie viele verschiedene Messgeräte es heutzutage gibt, um auch die kleinste Sehschwäche oder die geringste Verschiebung der Achse aufzuspüren. Ich war schwer beeindruckt. "Also" – der Tonfall des Optikers verhieß nichts Gutes. "Sie müssen bei Sonnenschein nicht oft eine Sonnenbrille tragen, richtig?" Wie bitte? Nein, muss ich nicht. "Das liegt daran, dass sich die Pupillen Ihrer Augen durch die permanente Anstrengung verkleinert haben. Sie wissen gar nicht, was Sie alles nicht sehen, wenn es dunkel ist." Dann machte er mir unmissverständlich klar: entweder zwei Brillen – eine für Weitsicht und eine zum Lesen – oder eine Gleitsichtbrille. Ich kann Ihnen meine Begeisterung kaum beschreiben. Eine ständige Wechselei wollte ich mir allerdings ersparen. Die dann folgenden Erläuterungen zu den verschiedenen Optionen und Qualitäten überforderten mich schlichtweg. Klar war am Ende aber eines: Wenn ich mich für eine Gleitsichtbrille entscheide, dann wird sie Teil meines Gesichtes wie meine Nase – außer nachts. Nach einigen Tagen stand mein Entschluss fest: Ich gehe aufs Ganze und fordere meine Augen mit drei Gleitsicht-Phasen heraus. So wählte ich ein Modell mit Gläsern, die man durchaus mit "sehr groß" beschreiben kann. Die drei Phasen sollten schließlich genügend Platz haben. Und wenn schon Brille, dann sollte sie wenigstens jedem auffallen – also musste es auf jeden Fall eine mit einem roten Rahmen sein. Nach einer Woche konnte ich sie abholen. Beim Anpassen erhielt ich noch den wichtigen Hinweis von der Optikerin: "Heimliche Seitenblicke zum Flirten funktionieren jetzt nicht mehr. Sie müssen den Kopf in die Richtung drehen, in die Sie schauen möchten." Das hatte der Kollege mir verschwiegen. Egal. Es dauerte tatsächlich nicht lange, bis wir uns – meine Augen und ich – an das Gleiten gewöhnt hatten. Tatsächlich besteht mittlerweile eine Art von Abhängigkeit. Denn ohne die Sehhilfe bin ich inzwischen beinahe gänzlich aufgeschmissen, sodass nach dem Aufstehen mein erster Griff allein ihr gilt. Das rote Gestell fällt auch auf – allerdings anders als erwartet. Denn die Frage lautet nicht etwa: "Oh, hast du jetzt eine Brille?", sondern stets: "Hast du eine 'neue' Brille?""Unglaublich, wie viele verschiedene Messgeräte es heutzutage gibt, um auch die kleinste Sehschwäche oder die geringste Verschiebung der Achse aufzuspüren."Sonja Gruhn, Redakteurin
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